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Lektion 7

Warum wir die Bibel lesen sollten

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Übersicht

 

Wir können das, was die Bibel über sich selbst sagt, in sechs Worten zusammenfassen: schreiben, lesen, antworten, feiern, erinnern und wiederholen.

 

Nachdem die Israeliten die Amalekiter besiegt haben, befiehlt Gott dem Mose, die Ereignisse niederzuschreiben, damit sie sich daran erinnern, was er für sie getan hat. Dies ist die erste Erwähnung vom Aufschreiben eines Textes in der Bibel. Bevor Mose auf dem Berg Sinai den Bund mit Gott schließt, schreibt er die 10 Gebote und andere Verordnungen auf. Und ehe er den Bund ratifiziert, liest er dem versammelten Volk das Buch des Bundes vor. Das Volk antwortet darauf mit der Zusage, alles, was es gehört hat, zu befolgen. Anschließend feiern sie den Bund mit einem Mahl, um die neu entstandene Lebensgemeinschaft zwischen Gott und dem Volk Israel zum Ausdruck zu bringen. Diese liturgische Zeremonie veranschaulicht die Realität dessen, was gerade geschehen ist.

 

Dann befiehlt Gott den Israeliten, sich an alles zu erinnern, was er für sie getan hat, damit sie ihre Identität als sein auserwähltes Volk nicht verlieren. Zu diesem Zweck sollen sie sich alle sieben Jahre versammeln, um sich das Buch der Weisung vorlesen zu lassen. Zum ersten Mal geschieht dies, kurz bevor sie in das gelobte Land einziehen, nachdem sie 40 Jahre in der Wüste umhergezogen waren. Josua versammelt das Volk und liest ihnen den Text vor.

 

Leider gibt es in der Bibel keinen Hinweis darauf, dass sie dies bis zum Regierungsantritt des Königs Josia (640-609 v. Chr.) jemals wieder tun. Die Tatsache, dass das Volk immer wieder seine Identität vergisst und gegen Gott sündigt, deutet eher darauf hin, dass dies nicht geschah. Bei einer Renovierung des Tempels, die König Josia angeordnet hatte, wird das Buch des Gesetzes gefunden. Daraufhin verfügt der König eine öffentliche Lesung des Gesetzes und erneuert den Bund. Leider kommt seine religiöse Reform zu spät und greift zu kurz und kann so die Zerstörung Jerusalems und das babylonische Exil nicht verhindern. Aber 70 Jahre später, als das Volk aus dem Exil zurückkehrt, gibt es eine weitere öffentliche Lesung. Diesmal wird aus der Schrift nicht nur vorgelesen, sondern die Leviten erklären dem Volk auch die Lesungen. Dies ist der früheste Beleg in der Bibel für eine Predigt.

 

Jedes Mal, wenn wir zur Messe gehen, erfüllen wir das, was Gott befohlen hat. Wir nehmen an der öffentlichen Lesung der Heiligen Schrift teil, die oft von einer Predigt begleitet wird. Dies hilft uns, uns an unsere Identität zu erinnern, indem wir uns vor Augen führen, was Gott in der Vergangenheit für uns getan hat. Nach dem Wortgottesdienst antworten wir Gott, indem wir in der Feier der Eucharistie unsere Bundesbeziehung mit ihm würdig begehen und erneuern.

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Einführung

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Warum sollen wir die Bibel lesen? Jedesmal, wenn ich Vorlesungen über die Bibel halte, lautet eine der am häufigsten gestellten Fragen: Warum hat Gott dies alles auf diese Art und Weise getan? Wir teilen die Erfahrung, dass es schwierig ist, die Bibel zu lesen. Wie viele Menschen haben sie tatsächlich von Anfang bis Ende gelesen? Vermutlich nicht sehr viele. Und selbst bei denen, die es geschafft haben, frage ich mich, wie viel sie davon verstanden haben.

 

 Der heilige Paulus schreibt:

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Jede Schrift ist, als von Gott eingegeben, auch nützlich zur Belehrung, zur Widerlegung, zur Besserung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit, damit der Mensch Gottes gerüstet ist, ausgerüstet zu jedem guten Werk. 

(2 Tim 3, 16-17)

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Wie kann das stimmen, wenn es doch so schwer ist, die Bibel zu lesen und zu verstehen? Wäre es nicht besser gewesen, Gott hätte uns ein Handbuch gegeben, in dem klar aufgeführt wird, was er von uns erwartet? Stattdessen hat er uns ein Buch mit mehr als tausend Seiten gegeben, das hauptsächlich aus Geschichten besteht; Geschichten, die keinen Bezug zu unserem Leben zu haben scheinen und wenig hilfreich dabei sind, eine Beziehung zu ihm aufzubauen.

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So erzählt die kürzere hebräische Version des Buches Ester in einer furiosen Darstellung von einer jüdischen Frau, die einen persischen König heiratet und dann ihre Schönheit einsetzt, um ihr Volk vor dem Untergang zu bewahren. Gott kommt in dieser Geschichte nicht ein einziges Mal vor. Im Buch Numeri lesen wir von einem sprechenden Esel, der sich darüber beklagt, dass sein Herr, ein Prophet mit Namen Bileam, ihn schlägt. Und in Richter 19 finden wir die vermutlich groteskeste Geschichte: Sie handelt von einer levitischen Nebenfrau, die bei einer Massenvergewaltigung zu Tode kommt, deren Körper anschließend in zwölf Teile zerstückelt wird und „Glied für Glied ... in das ganze Gebiet Israels" verschickt wird (Ri 19, 26). Dies sind nur drei aus hunderten ähnlicher Geschichten, die wir in der Bibel finden. Wie können sie in irgendeiner Weise zur Belehrung hilfreich sein, wie Paulus schreibt?

 

Andere Teile der Bibel bestehen aus lyrischer Poesie. Poetische Texte machen sogar ein Viertel der Bibel aus. Das Hohe Lied der Liebe zum Beispiel ist eine Sammlung von Liebesliedern. Auch wenn diese literarische Meisterwerke sein mögen, so ist doch schwer verständlich, warum sie sich in der Bibel finden. Wie das Buch Ester, so erwähnen sie Gott nicht, und handeln auch sonst weder von seinen Geboten oder von den Bünden, die er mit uns schloß, noch enthalten sie eine sittliche Anweisung für uns. Wann haben Sie das letzte Mal dieses Buch als hilfreich empfunden, um heiliger zu werden?

 

Das Buch Klagelieder ist ein weiteres gutes Beispiel: Es besteht aus fünf Klagen über die Zerstörung Jerusalems, aber es wird nicht deutlich, welche Bedeutung sie für unser Leben haben. Wie können diese Geschichten uns darin unterstützen, in unserem alltäglichen Leben Gutes zu tun?

 

Nach meiner Erfahrung nehmen die meisten Menschen die Bibel zur Hand, weil sie von ihr eine Lebenshilfe erwarten, aber am Ende legen sie sie zur Seite und haben mehr Fragen als vorher. Entweder irrt sich Paulus oder Gott wollte uns die Bibel tatsächlich so übergeben, wie sie ist. In dieser Lerneinheit wollen wir nach einer Antwort auf diese Fragen suchen, indem wir uns ansehen, was die Bibel über sich selbst sagt und welchen Zugang die Juden zu ihren heiligen Schriften hatten. Das wird uns dabei helfen zu verstehen, welchen Platz die Bibel heutzutage im Leben der Kirche einnimmt und welche Rolle sie in unserem Leben spielt. Etliche Gedanken dieser Lerneinheit sind einem Podcast entnommen, den Tim Mackie und Jon Collins darüber produziert haben, wie man die Bibel lesen sollte (BibleProject).

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Schreib!

 

Normalerweise machen sich die Menschen keine Gedanken darüber, wie die Bibel geschrieben und zusammengestellt wurde. Sie gehen davon aus, dass sie eben immer schon so war. Doch wenn die Bibel ein von Menschen verfasstes Buch ist – wie wir in einer früheren Lektion gesehen haben – dann muss sie, wie jedes andere veröffentlichte Buch auch, einen redaktionellen Prozess durchlaufen haben.

 

Die erste Erwähnung, dass die Bibel geschrieben wurde, findet sich im Buch Exodus Kapitel 17. Bevor wir jedoch diesen Abschnitt lesen, lassen Sie uns kurz den Kontext der Bibelstelle betrachten. Der erste Teil des Buches Exodus erzählt davon, wie Gott die Israeliten aus der Sklaverei in Ägypten rettete. Er berief Mose und befahl ihm, den Pharao aufzufordern, sein Volk ziehen zu lassen. Als sich der Pharao weigerte, schritt Gott selber ein. Der Text zeigt Gott und Pharao als Rivalen, die um das Herz der Israeliten konkurrieren.

 

Die zehn Plagen können als Showdown oder Kraftprobe der beiden verstanden werden. Jede der Plagen war ein strategischer Angriff gegen die ägyptischen Götter, die letztendlich den Pharao dazu brachten nachzugeben und das Volk ziehen zu lassen. Nachdem jedoch die Israeliten Ägypten verlassen hatten, änderte der Pharao seine Meinung und schickte seine Armee hinter ihnen her, um sie zurückzuholen.

 

Die Lage der Israeliten erschien aussichtslos, da sie den sechshundert Streitwagen des ägyptischen Heeres nichts entgegenzusetzen hatten. Doch Gott schritt wiederum auf wunderbare Weise ein, indem er das Heer vernichtete und die Wasser des Roten Meeres teilte, so dass die Israeliten entkommen konnten. Als sie dann durch die Wüste zogen, wurden sie von den Amalekitern angegriffen, die sie für eine leichte Beute hielten. Doch Gott griff wiederum zu ihren Gunsten ein. Wir lesen:

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Josua tat, was ihm Mose aufgetragen hatte, und kämpfte gegen Amalek, während Mose, Aaron und Hur auf den Gipfel des Hügels stiegen. Solange Mose seine Hand erhoben hielt, war Israel stärker; sooft er aber die Hand sinken ließ, war Amalek stärker. Als dem Mose die Hände schwer wurden, holten sie einen Steinbrocken, schoben den unter ihn und er setzte sich darauf. Aaron und Hur stützten seine Arme, der eine rechts, der andere links, sodass seine Hände erhoben blieben, bis die Sonne unterging. So schwächte Josua Amalek und sein Heer mit scharfem Schwert. (Ex 17, 10-13)

 

Nachdem die Israeliten die Amalekiter besiegt hatten, sagte Gott zu Mose:

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Schreibe es zum Gedächtnis in ein Buch und präge es Josua ein! (Ex 17, 14)

 

Dies ist das erste Mal in der Bibel, dass das Aufschreiben eines Textes erwähnt wird. Beachten Sie, dass Gott Mose nicht befahl, etwas aufzuschreiben, was „nützlich zur Belehrung, zur Widerlegung, zur Besserung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit” (2 Tim 3, 16-17) ist. Stattdessen befahl er ihm aufzuschreiben, wie Gott die Israeliten aus der Sklaverei in Ägypten befreit und sie auf ihrer Wanderung durch die Wüste beschützt hatte.

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Wir erfahren nicht, wie Mose diese Aufgabe löste. Die meisten zeitgenössischen Wissenschaftler sind der Überzeugung, dass er selbst gar nichts niederschrieb. Stattdessen vertreten sie die Auffassung, dass die biblischen Bücher nach einem langen Prozess der mündlichen Tradition erst Jahrhunderte später niedergeschrieben wurden. Da diese Diskussion für einen Einführungskurs zu sehr ins Detail geht, lassen wir sie außen vor. Wie auch immer es gewesen sein mag, wir können danach fragen, warum Gott dem Mose diesen Auftrag gab. Sicherlich wollte Gott kein Archiv einrichten über historische Ereignisse. Das Buch sollte als Erinnerung dienen. Josua sollte es vortragen, damit die Israeliten daran erinnert würden, wie Gott immer wieder zu ihren Gunsten in die Geschichte eingegriffen hatte. Das war der Sinn des Auftrags.

 

Warum beauftragte Gott Mose, dieses Buch zu schreiben? Es sollte nicht für irgendein historisches Archiv verfasst werden. Im Gegenteil, es sollte als Erinnerungsstütze dienen. Es sollte Josua vorgetragen werden, damit dieser sich daran erinnerte, wie Gott immer wieder zugunsten seines Volkes eingegriffen hatte. Dies war der Zweck des Buches.

 

Nach der Schlacht gegen die Amalekiter, zogen Mose und die Israeliten zum Berg Sinai. Dort bot Gott ihnen an, einen Bund mit ihnen zu schließen. Er versprach ihnen:

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Jetzt aber, wenn ihr auf meine Stimme hört und meinen Bund haltet, werdet ihr unter allen Völkern mein besonderes Eigentum sein. Mir gehört die ganze Erde, ihr aber sollt mir als ein Königreich von Priestern und als ein heiliges Volk gehören. (Ex 19, 5-6)

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Das Volk stimmte dem zu. Daraufhin stieg Mose auf den Berg, und Gott übergab ihm die Zehn Gebote, die uns allen so vertraut sind, sowie eine Sammlung weiterer Gesetze. Diese führen die Zehn Gebote im Detail weiter aus. Sie bestehen aus sozialen und religiösen Vorschriften, die helfen, eine Gesellschaft zu ordnen und  zu regeln. So behandeln sie zum Beispiel den Umgang mit Sklaven, Vergehen, auf denen die Todesstrafe steht, das Vergeltungsprinzip („Auge um Auge”, „Zahn um Zahn”), den Schutz der Schwachen usw. Auch der Ablauf der  wichtigsten Feste wird aufgeführt.

 

In Kapitel 24 lesen wir:

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Mose kam und übermittelte dem Volk alle Worte und Rechtssatzungen des HERRN. Das ganze Volk antwortete einstimmigund sagte: Alles, was der HERR gesagt hat, wollen wir tun. (Ex 24, 3)

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Und anschließend: „Mose schrieb alle Worte des HERRN auf.” (Ex 24, 4) Dies nennen wir das Bundesbuch. Die allererste Fassung der Bibel, die wir Bibel 1.0 nennen können, enthält also Geschichten über die Befreiung Israels und das Bundesbuch.

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Lies!

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Ehe Mose den Bund ratifizierte,

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... nahm er das Buch des Bundes und verlas es vor dem Volk. (Ex 24, 7)

 

Daraus ersehen wir, dass die Bibel laut vor dem versammelten Volk Gottes verlesen werden soll. Soziologen nennen diesen Prozess Bildung der Corporate Identity. Das laute Vorlesen vor dem versammelten Volk Gottes sollte sie an ihre einzigartige Identität erinnern: Sie waren eine kleine Minderheit, die mitten unter anderen Völkern lebte, welche ihrerseits eine andere Identität und andere Geschichten hatten.

 

Dies gilt auch noch für uns heutzutage. Wenn wir Christen zusammenkommen, besonders in der Heiligen Messe, und gemeinsam die Geschichten der Bibel hören, so soll uns das daran erinnern, was Gott alles für uns getan hat. Das hilft uns, in unsere Bestimmung als Kinder Gottes hineinzuwachsen und unsere Berufung zu leben inmitten einer Welt, die anders tickt als wir und nach anderen Werten lebt.

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Antworte!

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Wenn wir dann die Geschichte des Buches Exodus weiter lesen, hören wir, dass das Volk nach dem ersten Verlesen der Texte auf dem Berg Sinai antwortet:

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Alles, was der HERR gesagt hat, wollen wir tun; und wir wollen es hören. (Ex 24, 7)

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Das Volk antwortete also auf das Wort Gottes, das es vorher gehört hatte. Ebenso sollte das öffentliche Vorlesen der Bibel auch uns zu einer Antwort bewegen. Es gibt viele mögliche Reaktionen. Eine davon könnte die praktische Umsetzung sein. Das machen wir häufig so. Wir lesen die Bibel und überlegen uns, wie wir das Gelesene in unserem Leben umsetzen können. Das Lesen der Bibel sollte also eine Reaktion in uns hervorrufen, aber die praktische Anwendung ist nur eine der Möglichkeiten. Und oft ist sie nicht einmal die beste Reaktion. Zum Beispiel dürfte es schwierig sein, eine praktische Anwendung für die Klagen über die Zerstörung Jerusalems zu finden. Aber das Lesen des Textes kann uns zu Tränen rühren. Dies wäre eine angemessene Reaktion.

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Am Ende ist das Lesen der Bibel oft nicht das, was wir erwarten. Deshalb kann das Lesen so herausfordernd sein. Viele Menschen denken, Gott habe uns ein Handbuch gegeben mit praktischen Anweisungen, die wir einfach verstehen und umsetzen können. Aber die Bibel passt nicht in unsere Denkkategorien. Erinnern Sie sich, dass wir in einer der vorigen Lerneinheiten gesehen haben, dass nur 24% der Bibel in einem Prosastil geschrieben wurden, der dem eines Handbuchs ähnelt. Den Rest bilden Geschichten und poetische Texte.

 

Das online Miriam-Webster Dictionary definiert ‚Antwort’ als etwas, das eine Reaktion oder Erwiderung hervorruft. Das Lesen der Bibel sollte eine Reaktion in uns hervorrufen, aber das muss kein Akt einer praktischen Umsetzung sein.

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Auf einen biblischen Text zu antworten bedeutet, ihm zu erlauben, in uns etwas zu bewirken. Wie wir gesehen haben, ist die praktische Umsetzung eine mögliche Antwort, aber nicht alle Antworten müssen praktische Umsetzungen sein. Gott erwartet von uns nicht, dass wir für alles in der Bibel eine praktische Umsetzung finden, aber er erwartet von uns, dass wir reagieren. So gesehen, kann man die Bibel mit einem bedeutenden Kunstwerk in einem Museum vergleichen: Auch dieses ruft eine Reaktion in uns hervor.

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Im Hebräerbrief lesen wir:

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Denn lebendig ist das Wort Gottes, wirksam und schärfer als jedes zweischneidige Schwert; es dringt durch bis zur Scheidung von Seele und Geist, von Gelenken und Mark; es richtet über die Regungen und Gedanken des Herzens. (Hebr 4, 12)

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Gottes Wort ist eine aktiv wirkende Realität, die etwas in uns auslöst. Deshalb verändert uns das Lesen der Bibel allmählich. Haben Sie je auf das Wort Gottes reagiert? Was hat es in Ihnen hervorgerufen? Wie sah beispielsweise Ihre Reaktion aus, als Sie von der Vergewaltigung der levitischen Nebenfrau gelesen haben?

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Feiere!

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Kommen wir noch einmal zum Buch Exodus zurück. Nachdem das Volk geantwortet hat, lesen wir:

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Da nahm Mose das Blut, besprengte damit das Volk und sagte: Das ist das Blut des Bundes, den der HERR aufgrund all dieser Worte mit euch schließt. (Ex 24, 8)

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Auf diese Weise schlossen sie einen Bund mit Gott. In den antiken Kulturen der biblischen Welt wurden Familien durch Bundesschluß gegründet. Israel wurde also das erste Volk, das mit Gott in eine Bundesbeziehung trat und so Teil seiner Familie wurde.

 

Anschließend heißt es im Text:

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Danach stiegen Mose, Aaron, Nadab, Abihu und die siebzig von den Ältesten Israels hinauf und sie schauten den Gott Israels. Die Fläche unter seinen Füßen war wie mit blauem Edelstein ausgelegt und glänzte hell wie der Himmel selbst. Gott streckte seine Hand nicht gegen die Vornehmen der Israeliten aus; sie durften Gott schauen und sie aßen und tranken. (Ex 24, 9-11)

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Das gemeinsame Mahl ist eine typische Art und Weise, wie Familien ihre Zusammengehörigkeit zum Ausdruck bringen. Das gilt auch für Gottes Familie. Die neu vollzogene Gemeinschaft zwischen Gott und seiner Familie – durch einen Bund vollzogen – wurde mit einem Festmahl gefeiert. Dieser liturgische Vollzug war Ausdruck der Realität, die sich soeben ereignet hatte.

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Erinnere Dich!

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Leider dauerte es nicht sehr lange, da brachen die Israelten den Bund. Während Mose auf den Berg stieg, um Gott zu begegnen, wandte sich das Volk von Gott ab, machte sich ein goldenes Kalb und betete es an. Mose bewahrte die Israeliten vor dem Zorn Gottes, indem er Fürsprache für sie einlegte.

 

In Kapitel 34 lesen wir, dass Gott seinen Bund mit ihnen erneuerte, allerdings änderte er – als Reaktion auf ihre Sünde – die Bedingungen des Bundes. Seine Anwesenheit inmitten seines Volkes wurde distanzierter, und das Volk verlor seine Identität als ein Königreich von Priestern. Zuvor waren alle männlichen Israeliten Priester gewesen, doch jetzt wurden nur noch die Leviten zu Priestern geweiht. Zu guter Letzt verschärfte Gott sein zuvor gegebenes Gesetz, indem er den Bund um das Buch Levitikus erweiterte. Es enthält überwiegend Regeln und Vorschriften, damit das Volk trotz seiner Sündhaftigkeit weiterhin in Gemeinschaft mit Gott leben konnte.

 

Leider brachen die Israeliten den Bund ein weiteres Mal. In den Büchern Numeri (vgl. 31) und Offenbarung (2, 14) erfahren wir, wie der Prophet Bileam – der übrigens der Besitzer des sprechenden Esels war – den Midianitern half, die Israeliten auf Abwege zu führen, indem diese sie dazu brachten, Unzucht zu treiben und Götzenopferfleisch zu essen.

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Im Buch Deuteronomium lesen wir, wie der Bund ein drittes Mal errichtet wird. Dies wird allerdings in einer merkwürdigen und schwer zu verstehenden Sprache beschrieben. Das Buch Deuteromomium wird so genannt, weil es zum großen Teil aus Gesetzen besteht, die Mose für diesen wieder errichteten Bund eingeführt hat. Der Name ‚Deuteromomium’ bedeutet ‚zweites Gesetz’. Einige der Gesetze beziehen sich auf einen zukünftigen König. In Kapitel 17 lesen wir:

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Und wenn er seinen Königsthron bestiegen hat, soll er sich von dieser Weisung, die die levitischen Priester aufbewahren, auf einer Schriftrolle eine Zweitschrift anfertigen lassen. Sein Leben lang soll er die Weisung mit sich führen und in der Rolle lesen, damit er lernt, den HERRN, seinen Gott zu fürchten ... (Dtn 17, 18-19)

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Der zukünftige König soll also jeden Tag in den Schriften lesen. Der Sinn dessen ist, dass er lernen soll, Gott zu fürchten. Die Gottesfurcht ist also eine weitere Reaktion, die das Lesen der Bibel in uns hervorrufen kann. Aber bedenken Sie: Gottesfurcht bedeutet nicht, Angst vor Gott zu haben.

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Papst Franziskus führt in seiner Generalaudienz vom 6. Juni 2014 aus::

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Wir wissen, dass Gott der Vater ist und dass er uns liebt und unser Heil will und stets vergibt; daher gibt es keinen Grund, vor ihm Angst zu haben! Die Gottesfurcht ist vielmehr die Gabe des Geistes, die uns daran erinnert, wie klein wir sind vor Gott und vor seiner Liebe, und dass unser Wohl darin besteht, uns mit Demut, mit Hochachtung und mit Vertrauen in seine Hände hinzugeben. Das ist die Gottesfurcht: die Hingabe an die Güte unseres Vaters, der uns so sehr liebt.

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Das Buch Deuteronomium nennt einen weiteren Schritt, den wir in der Beschäftigung mit dem Wort Gottes gehen sollen. Dieser wird über ein Dutzend Mal wiederholt. Die folgenden Zitate sind nur einige Beispiele:

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Gedenke, dass du Sklave warst im Land Ägypten und dass dich der HERR, dein Gott, mit starker Hand und ausgestrecktem Arm von dort herausgeführt hat. Darum hat es dir der HERR, dein Gott, geboten, den Sabbat zu begehen. (Dtn 5, 15)

 

... dann sollst du vor ihnen [den größeren Völkern] keine Furcht haben. Du sollst an das denken, was der HERR, dein Gott, mit dem Pharao und mit ganz Ägypten gemacht hat: an die schweren Prüfungen, die du mit eigenen Augen gesehen hast, an die Zeichen und Wunder, an die starke Hand und den hoch erhobenen Arm, mit denen der HERR, dein Gott, dich herausgeführt hat. (Dtn 7, 18-19)

 

Du sollst an den ganzen Weg denken, den der HERR, dein Gott, dich während dieser vierzig Jahre in der Wüste geführt hat ... (Dtn 8, 2)

 

Gedenke vielmehr des HERR, deines Gottes: Er ist es, der dir die Kraft gibt, Reichtum zu erwerben ... (Dtn 8, 18)

 

Denk daran und vergiss nicht, dass du in der Wüste den Unwillen des HERRN, deines Gottes, erregt hast. Von dem Tag an, als du aus Ägypten auszogst, bis zur Ankunft an diesem Ort habt ihr euch dem HERRN ständig widersetzt. (Dtn 9, 7)

 

Denk an deine Knechte, an Abraham, Isaak und Jakob! (Dtn 9, 27)

 

Denkt an das, was der HERR, dein Gott, als ihr aus Ägypten zogt, unterwegs mit Mirjam getan hat! (Dtn 24, 9)

 

Denk daran, was Amalek dir unterwegs angetan hat, als ihr aus Ägypten zogt ... (Dtn 25, 17)

 

Sich an die Ereignisse zu erinnern, ist also eine weitere mögliche Antwort auf Gottes Wort. Im Buch Deuteronomium lesen wir, dass die Israeliten angehalten sind, auch ihren Kindern und Kindeskindern von den Ereignissen zu erzählen:

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Jedoch, nimm dich in Acht, achte gut auf dich! Vergiss nicht die Ereignisse, die du mit eigenen Augen gesehen, und die Worte, die du gehört hast! Lass sie dein ganzes Leben lang nicht aus dem Sinn! Präge sie deinen Kindern und Kindeskindern ein! (Dtn 4, 9)

 

Warum ist das so wichtig? Das Lesen der Bibel erinnert das Volk Israel daran, wer es ist und wozu es sich durch das Schließen des Bundes verpflichtet hat. Die Juden haben diese Technik perfektioniert. Obwohl seitdem tausende von Jahren vergangen sind, obwohl sie an weit verstreuten Orten gelebt haben, obwohl sich die Gesellschaft ständig verändert hat, und trotz der Verfolgungen, die sie erlitten haben, haben sie ihre Identität bewahrt, weil sie ihre Geschichte nicht vergessen haben.

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Wiederhole!

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Auch wir werden unsere Identität als Christen bewahren – trotz mancherlei Schwierigkeiten und sich ändernder Bedingungen –, wenn wir an unserer Geschichte festhalten. Und um das zu tun, genügt es nicht, die Geschichte einmal zu hören. Wir müssen sie wieder und wieder hören. Und die beste Gelegenheit dazu bietet sich, wenn wir uns für die Heilige Messe versammeln. Deshalb ist das Verlesen der biblischen Texte Teil der öffentlichen Liturgie.

 

In Deuteronomium 31 lesen wir:

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Mose schrieb diese Weisung auf und übergab sie den Priestern, den Nachkommen Levis, die die Lade des Bundes des HERRN trugen, und allen Ältesten Israels. (Dtn 31, 9)

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Zu diesem Zeitpunkt stand Mose kurz vor seinem Tod und war dabei, die Führung des Volkes an Josua weiterzugeben. Wir erfahren, dass er vorher die Vorschriften, die wir im Buch Deuteronomium finden, niederschrieb, und so wurden sie ein Teil der Tora. Dann übergab er sie den Priestern und Ältesten. Vielleicht können wir diese Version der Tora Bibel 1.1 nennen.

 

Beachten Sie: Mose unterschied nicht zwischen den Priestern und den Laien. Beide erhielten die Tora. Von nun an sollten beide Gruppen die Bibel lesen. Danach heißt es:

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Mose gebot ihnen: In jedem siebten Jahr, in einer der Festzeiten des Brachjahres, beim Laubhüttenfest, wenn ganz Israel zusammenkommt, um an der Stätte, die der HERR erwählen wird, vor dem Angesicht des HERRN, deines Gottes, zu erscheinen, sollst du diese Weisung vor ganz Israel laut vorlesen. Versammle das Volk – die Männer und Frauen, Kinder und Greise, dazu die Fremden, die in deinen Stadtbereichen Wohnrecht haben –, damit sie zuhören und auswendig lernen und den HERRN, euren Gott, fürchten und darauf achten, dass sie alle Bestimmungen dieser Weisung halten! Vor allem ihre Kinder, die das alles noch nicht kennen, sollen zuhören und lernen, den HERRN, euren Gott, zu fürchten. Das sollt ihr so lange tun, wie ihr in dem Land lebt, in das ihr jetzt über den Jordan hinüberzieht, um es in Besitz zu nehmen. (Dtn 31, 10-13)

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Um sicherzustellen, dass auch zukünftige Generationen diese Geschichte erinnern und lernen, den Herrn zu fürchten und seine Gebote zu halten, schrieb die Tora vor, dass die Schriften alle sieben Jahre während des Laubhüttenfestes öffentlich verlesen werden sollten. Auf diese Weise konnte sich das Volk die Begegnung mit Gott auf dem Berg Sinai immer wieder vergegenwärtigen und den Bund mit ihm erneuern.

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In allen antiken Kulturen gab es eine mündliche Tradition. Das Erzählen von Geschichten half den Völkern, ihre Identität zu entwickeln. Das Besondere am Volk Israel ist, dass sie ihre Geschichten aufschrieben und jeder ermutigt wurde, sie in Gemeinschaft mit anderen zu lesen. Sicherlich wurden sie auch mündlich weitergegeben, aber alle sieben Jahre sollte sich das Volk versammeln, um gemeinsam die Geschichten zu hören. Dadurch wurden die Israeliten daran erinnert, wie Gott zu ihren Gunsten eingegriffen und sie aus der Sklaverei des Pharaos gerettet hatte. Und sie wurden daran erinnert, dass sie eine Bundesbeziehung mit Gott eingegangen waren, in der sie sich verpflichtet hatten, seine Gebote zu halten.

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Der nächste bedeutende Text, der von der öffentlichen Verlesung der Bibel spricht, findet sich im Buch Josua in Kapitel 8. Nachdem die Israeliten die Städte Jericho und Ai erobert haben, lesen wir:

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Damals errichtete Josua auf dem Berg Ebal für den HERRN, den Gott Israels, einen Altar ... aus unbehauenen Steinen ... Und dort schrieb er auf die Steine eine Abschrift der Weisung des Mose, die dieser geschrieben hatte vor den Augen der Israeliten. ... Danach verlas Josua alle Worte der Weisung, Segen und Fluch, genauso, wie es im Buch der Weisung aufgezeichnet ist. Von alldem, was Mose geboten hatte, gab es kein einziges Wort, das Josua nicht vor der ganzen Versammlung Israels verlesen hätte; auch die Frauen und kleinen Kinder und die Fremden, die mit ihnen zogen, waren dabei. (Jos 8, 30-35)

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Dies ist ein bedeutender Augenblick, denn für das Volk begann ein neuer Lebensabschnitt. Sie hatten soeben das Verheißene Land betreten und die Wüste hinter sich gelassen. Sie schlugen ein neues Kapitel in ihrem Leben auf. Bevor sie also mit ihrem Alltag weitermachten, hielten sie einen Moment inne im Kampf, um sich ihrer Identität zu vergewissern, sich zu erinnern, wer sie waren, woher sie kamen und warum sie dieses Land betreten hatten.

 

Nach dieser Selbstvergewisserung fuhren sie fort, das Land zu erobern und sich darin einzurichten. Irgendwann wurden sie zu einem Königreich. Über die Entstehung dieses Königreiches lesen wir in den Büchern Richter, 1 und 2 Samuel und 1 und 2 Könige.

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Interessanterweise erfahren wir nicht, ob sich das Volk während dieser Zeit an die Vorschriften gehalten hat  – und wir reden immerhin über einen Zeitraum von ungefähr 600 Jahren. Nirgends lesen wir, dass das Volk alle sieben Jahre zusammenkam, um die Bibel zu hören. Wenn wir uns jedoch die geistige und kulturelle Situation Israels ansehen, vor allem in der Zeit des geteilten Königreiches, dann erscheint es unwahrscheinlich, dass sie je diese öffentliche Verlesung abgehalten haben.

 

Wir wissen dagegen, dass das Volk sehr schnell seine eigene Geschichte vergaß und so seine Identität verlor.

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Josua, der Sohn Nuns, der Knecht des HERRN, starb im Alter von hundertzehn Jahren und man begrub ihn in Timnat-Heres, im Gebiet seines Erbbesitzes auf dem Gebirge Efraim, nördlich vom Berg Gaasch. Auch jene ganze Generation wurde mit ihren Vätern vereint und nach ihnen kam eine andere Generation, die den HERRN nicht kannte und auch nicht die Tat, die er für Israel getan hatte. (Ri 2, 8-10)

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Dies legt nahe, dass sie die öffentlichen Verlesungen nicht abhielten. Und das geschah innerhalb nur einer Generation! Die weitere Geschichte des Alten Testaments handelt dann davon, wie die Israeliten fortwährend von Gott abfielen und anderen Götzen nachliefen.

 

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Die Reform des König Josia

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Die nächste öffentliche Verlesung der Schriften findet unter König Josia statt. Er regierte von 640 - 609 v. Chr. und war einer der wenigen guten Könige. Im Alter von acht Jahren wurde er zum König ernannt und regierte für 31 Jahre. „Er tat, was dem HERRN  gefiel, und folgte ganz den Wegen seines Vaters David, ohne nach rechts oder links abzubiegen." (2 Kön 22, 2)

 

Das Buch der Weisungen wurde bei Renovierungsarbeiten des Tempels gefunden. „Als der König die Worte des Buches der Weisung hörte, zerriss er seine Kleider ..." (2 Kön 22, 11)  Das Zerreissen der Kleider ist eine weitere mögliche Antwort auf das Hören der Schrift. Der König tat dies, denn er grämte sich sehr, „weil unsere Väter auf die Worte dieses Buches nicht gehört und weil sie nicht getan haben, was in ihm niedergeschrieben ist." (2 Kön 22, 13)

 

Wir haben gesehen, dass Josua das öffentliche Verlesen des Gesetzes veranlasste, damit sich das Volk seiner Identität bewusst wurde, weil ein neues Kapitel in seiner Geschichte begann: Die Israeliten ließen die Wüste hinter sich und betraten das Verheißene Land. König Josia ordnete das Verlesen des Gesetzes an, weil ihm klar wurde, dass die Israeliten ihre Geschichte vergessen hatten und undankbar gegenüber Gott geworden waren. Nun schauten sie zurück, um sich zu erinnern und ihre verlorene Identität neu zu entdecken.

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Er [der König] ging zum Haus des HERRN hinauf mit allen Männern Judas und allen Einwohnern Jersualems, den Priestern und Propheten und allem Volk, Jung und Alt. Er ließ ihnen alle Worte des Bundesbuches vorlesen, das im Haus des HERRN gefunden worden war. Dann trat der König an die Säule und schloss vor dem HERRN diesen Bund: Er wolle dem HERRN folgen, seine Gebote, Bundeszeugnisse und Satzungen von ganzem Herzen und ganzer Seele bewahren und die Worte des Bundes einhalten, die in diesem Buch niedergeschrieben sind. Das ganze Volk trat dem Bund bei.  (2 Kön 23, 2-3)

 

Das Lesen der Bibel ist deshalb so wichtig, weil es uns daran erinnert, wer wir sind. Unsere Identität kann Wurzeln schlagen. Das ist besonders wichtig, wenn man an einen neuen Ort zieht oder einen neuen Lebensabschnitt beginnt. Aber es kann auch denen helfen, die ihre Identität verloren haben. Das öffentliche Verlesen der Bibel erinnert uns daran, woher wir kommen und wohin wir gehen sollen. So wie das Volk zu Zeiten des Mose und Josua geantwortet hatte, so reagiert das Volk auch jetzt auf das Wort Gottes und erneuert seinen Bund mit ihm. Und dann feierten sie.

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Unglücklicherweise kam die religiöse Reform des König Josia zu spät und war zu wenig, um die Zerstörung Jerusalems und das babylonische Exil abzuwenden. Aber 70 Jahre später erlaubte Gott seinem Volk zurückzukehren und alles wieder aufzubauen. Und dann finden wir wiederum die Erwähnung des öffentlichen Schriftvortrags im Buch Nehemia, im achten Kapitel. Das Volk kehrte aus dem Exil zurück – voller Freude und froher Erwartungen. Aber das Leben war sehr hart.

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Das ganze Volk versammelte sich geschlossen auf dem Platz vor dem Wassertor und bat den Schriftgelehrten Esra, das Buch mit den Weisungen des Mose zu holen, die der HERR den Israeliten geboten hat. Am ersten Tag des siebten Monats brachte der Priester Esra die Weisung vor die Versammlung, Männer und Frauen und überhaupt alle, die schon mit Verstand zuhören konnten. Vom frühen Morgen bis zum Mittag las Esra auf dem Platz vor dem Wassertor den Männern und Frauen und denen, die es verstehen konnten, daraus vor. Das ganze Volk lauschte auf das Buch der Weisung. Der Schriftgelehrte Esra stand auf einer Kanzel aus Holz, die man eigens dafür errichtet hatte. Neben ihm standen rechts Mattitja, Schema, Anaja, Urija, Hilkija und Maaseja und links Pedaja, Mischael, Malkija, Haschum, Haschbaddana, Secharja und Meschullam. Esra öffnete das Buch vor aller Augen; denn er stand höher als das versammelte Volk. Als er das Buch aufschlug, erhoben sich alle. Dann pries Esra den HERRN, den großen Gott; darauf antworteten alle mit erhobenen Händen: Amen, amen! Sie verneigten sich, warfen sich vor dem HERRN nieder, mit dem Gesicht zur Erde. Jeschua, Bani, Scherebja, Jamin, Akkub, Schabbetai, Hodija, Maaseja, Kelita, Asarja, Josabad, Hanan und Pelaja, die Leviten, erklärten dem Volk die Weisung: die Leute blieben auf ihrem Platz. Man las aus dem Buch, der Weisung Gottes, in Abschnitten vor und gab dazu Erklärungen, sodass die Leute das Vorgelesene verstehen konnten.

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Nehemia, das ist Hattirschata, der Priester und Schriftgelehrte Esra und die Leviten, die das Volk unterwiesen, sagten dann zum ganzen Volk: Heute ist ein heiliger Tag zu Ehren des HERRN, eures Gottes. Seid nicht traurig und weint nicht! Alle Leute weinten nämlich, als sie die Worte der Weisung hörten. Dann sagte er zu ihnen: Nun geht, haltet ein festliches Mahl und trinkt süßen Wein! Schickt auch denen etwas, die selbst nichts haben; denn heute ist ein heiliger Tag zur Ehre unseres Herrn. Macht euch keine Sorgen; denn die Freude am HERRN ist eure Stärke. Auch die Leviten beruhigten das ganze Volk und sagten: Seid still, denn dieser Tag ist heilig! Macht euch keine Sorgen! Da gingen alle Leute weg, um zu essen und zu trinken und auch andern davon zu geben und um ein großes Freudenfest zu begehen; denn sie hatten die Worte verstanden, die man ihnen verkündet hatte. (Neh 8, 1-12)

 

Dies war das erste Mal nach der Rückkehr aus dem Exil, dass die Israeliten zu einer öffentlichen Verlesung zusammenkamen. Aber es geschah noch etwas Neues. Wir lesen, dass die Leviten den Text nicht nur vorlasen, sondern das Gesetz auch erklärten, so dass das Volk es verstehen konnte. Dies ist also die erste in der Bibel erwähnte Predigt.

 

Wie haben die Menschen auf das Wort Gottes reagiert? Zunächst lesen wir: „Die, die ihrer Abstammung nach Israeliten waren, sonderten sich von allen Fremden ab; sie traten vor und bekannten ihre Sünden und die Vergehen ihrer Väter" (Neh 9, 2). Am Ende priesen sie Gott und erneuerten den Bund mit ihm.

 

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Zusammenfassung

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In dieser Lerneinheit haben wir uns angesehen, was die Bibel über sich selbst sagt und wie die Juden mit ihren heiligen Schriften umgingen. Dabei zeigte sich ein Muster. Wenn sich das Volk im Namen Gottes versammelt und die Schriften verlesen werden, antwortet das Volk, indem es seine Sünden bekennt, Gott preist und den Bund mit ihm erneuert. Vielleicht sollten wir heutzutage, wenn wir den Eindruck haben, unsere Identität verloren zu haben, dasselbe tun. Christen sollten die Bibel lesen, um sich zu erinnern, wer sie sind und woher sie kommen.

 

Laut der Bibel sollte das Wort Gottes jedoch öffentlich vorgetragen und nicht nur im Privaten gelesen werden. Dies geschieht in jeder Heiligen Messe. Wenn wir die Messe besuchen, hören wir die öffentliche Lesung unserer Geschichte mit Gott. Daran schließt sich in der Regel eine Predigt an, die ausführen und erklären sollte, was wir gerade gehört haben. Auf diese Weise werden wir an das erinnert, was Gott für uns getan hat. Die Gemeinde antwortet auf das Gehörte, indem sie gemeinsam das Glaubensbekenntnis spricht. Dadurch bekräftigen wir unseren Glauben. Im anschließenden Fürbittgebet bitten wir Gott, auch weiterhin in unserem Interesse einzugreifen. Die Liturgie erreicht ihren Höhepunkt mit der Feier der Eucharistie, in der wir unseren Bund mit Gott erneuern.

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Unsere Untersuchung hat mein Bewusstsein für die Bedeutung des Antwortpsalms während der Messe geschärft. Wir nutzen dabei die Bibel selbst, um unsere Antwort als Gemeinde auf das öffentliche Verlesen von Gottes Wort zu geben.

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Kommen wir noch einmal auf unsere Ausgangsfrage zurück: Warum sollten wir die Bibel lesen? Wir meinen, dass es für uns einfacher gewesen wäre, wenn Gott uns ein praktisches Handbuch mit einer Auflistung aller Verhaltensregeln gegeben hätte. Aber nachdem ich nun die Bibel gelesen habe, denke ich, dass das nicht stimmt. Gott hat es schon einmal auf diese Weise versucht, und es hat nicht funktioniert. Er gab Adam und Eva eine klare und eindeutige Anweisung: Esst nicht von diesem Baum! Unglücklicherweise waren sie nicht in der Lage, das Gebot zu halten. Glauben wir, dass wir es besser machen würden?

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Wenn wir solche Geschichten in der Bibel lesen wie die von der levitischen Nebenfrau, so sollen sie uns schockieren. Das ist die Reaktion, die hervorgerufen werden soll. Aber sie sollen uns auch daran erinnern, dass dies nichts ist, was irgendwann einmal vor tausend Jahren geschehen ist. Es geschieht wieder und wieder in unserem eigenen Leben. Vielleicht haben wir selbst so etwas nicht getan, aber wer sind wir zu urteilen? „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein auf sie." (Joh 8, 7)

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Die Geschichte der Bibel erzählt auch von Gottes unveränderlicher Liebe. Was immer wir getan haben, sofern wir es bereuen, wird Gott immer treu zu seinem Bund mit uns stehen. Die Erfahrung dieser Liebe, die wir beim Lesen der Bibel entdecken, ist es, die unsere Herzen verändert und uns zu ihm zurückführt. Deshalb befahl Gott Mose und anderen, diese Geschichte aufzuschreiben. Und deshalb sollte diese Geschichte laut vorgelesen werden, wenn wir uns als Gemeinde versammeln.

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