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Kapitel 1

Eröffnungsvers

Photograph of biblical text

(Bild: dozemode auf Pixabay)

Übersicht 

In dieser Lerneinheit werden wir uns mit dem ersten Vers des Evangeliums beschäftigen. Er führt in das Hauptthema des Markus ein: die Identität Jesu. Markus wollte mit seinem Evangelium zeigen, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes. Um die volle Bedeutung dieses und eines weiteren Begriffs, den Markus in seinem Eröffnungsvers verwendet, zu erfassen, müssen wir beide vor dem Hintergrund des alttestamentlichen und des griechisch-römischen Kontextes lesen und interpretieren. Wir werden sehen, dass Markus die Gottheit Jesu ganz klar herausstellt.

Wir sollten uns bemühen, das Markus-Evangelium so zu lesen und zu verstehen, wie es die Leser des ersten Jahrhunderts n. Chr. taten. Heutzutage leben wir in einem völlig anderen kulturellen Kontext und verfehlen deshalb häufig die tiefere Bedeutung des Textes. Wir werden die wichtigsten Worte dieses Verses näher untersuchen und zu verstehen suchen, was sie für die Zielgruppe des Markus  in Rom lebende Heiden- und Judenchristen bedeuteten.

Lernziele

Sie werden diese Lerneinheit erfolgreich abgeschlossen haben, wenn Sie

  • erklären können, wie die heiden- und judenchristlichen Leser des Markus die folgenden Begriffe verstanden haben: ,Anfang', ,Evangelium', ,Jesus', ,Christus' und ,Gottessohn'.​

Der erste Vers​

Anfang des Evangeliums von Jesus Christus, Gottes Sohn. (Mk 1, 1)

Seinem Stil entsprechend beginnt Markus sein Evangelium ohne große Einleitung. Er stellt sich nicht vor, erläutert seine Motive nicht und erzählt nichts über die Geburt Jesu. Mit diesem ersten Satz sagt Markus, dass es in seinem Evangelium nur um Jesus geht. Er will zeigen, dass er der Christus und der Sohn Gottes ist. Deshalb ist jedes Wort dieses Verses wichtig.

​,Anfang'

Dieses Wort schlägt eine Brücke zum allerersten Vers der Bibel. 

Am Anfang erschuf Gott Himmel und Erde. (Gen 1, 1). 

In beiden Versen wird das gleiche griechische Wort archê verwendet. Durch diese Wiederholung deutet Markus an, dass Jesus einen neuen Anfang setzt, eine neue Schöpfung. Der Gedanke der neuen Schöpfung in Jesus durchzieht das ganze Neue Testament. Zum Beispiel sagt Jesus selber im Buch der Offenbarung:​

Seht, ich mache alles neu. (Off  21, 5)​

Diese neue Schöpfung beginnt mit seinem Kommen.

,Evangelium'

Es ist allgemein bekannt, dass das Wort ,Evangelium' gute Nachricht bedeutet. Es ist die Übersetzung des griechischen Wortes euangélion

  • eu- bedeutet gut

  • ángelos bedeutet Bote

  • -ion ist eine Verkleinerungsform

Das Wort euangélion war sowohl in der griechisch-römischen wie auch der jüdischen Welt verbreitet, hatte aber unterschiedliche Bedeutungen.

,Evangelium' in der griechisch-römischen Welt

Für Griechen und Römer hatte das Wort ,Evangelium' einen politischen Hintergrund. Zum Beispiel konnte es sich auf die Nachricht über einen militärischen Sieg beziehen. Im Jahr 490 v. Chr., als die Griechen die Perser auf dem Schlachtfeld von Marathon besiegten, schickten sie Pheidippides die 42 Kilometer zurück nach Athen, um die Siegesbotschaft zu übermitteln. Als er ankam, rief er: „Freut euch, wir haben gewonnen!“, dann starb er. Er galt als ,Evangelist', weil er die ,gute Nachricht' vom Sieg der Athener überbracht hatte. ​

Es gibt ein anderes Beispiel dazu, wie das Wort verwendet wurde, aus dem Gebiet der heutigen Türkei. Auf den Ruinen eines Regierungsgebäudes, das ungefähr auf das 6. Jh. v. Chr. datiert wird, findet sich folgende Inschrift über Kaiser Augustus:

Den göttlichen Kaiser ... sollten wir gleichbedeutend mit dem Anfang aller Dinge sehen ... Denn als alles (in Unordnung) fiel und sich in Auflösung befand, richtete er alles wieder auf und gab der ganzen Welt eine neue Aura. Der Kaiser ... der Heilsbringer ... der Ursprung des Lebens und der Lebenskraft ... Alle Städte übernehmen einmütig den Geburtstag des göttlichen Kaisers als neuen Jahresanfang ... Die Vorsehung, die unser ganzes Dasein regelt, ... hat unser Leben zur höchsten Vollkommenheit geführt, indem sie uns (den Kaiser) Augustus schenkte ... Er wurde uns und unseren Nachkommen als Retter gesandt, indem er den Krieg beendete und alles in die richtige Ordnung brachte. (Indem) er als (Gott) offenbar wurde, hat der Kaiser alle Hoffnungen früherer Zeiten erfüllt ... Die Geburt des [Augustus] bedeutet für die ganze Welt den Anfang des ‚Evangeliums‘ (euangélion). (Priene 150.40-41)​

Das ,Evangelium', das diese Inschrift verkündet, besagt, dass die Pax Romana, das Zeitalter des Friedens in der ganzen römischen Welt, durch Kaiser Augustus herbeigeführt worden war. Der historische Kontext ist der folgende: Nach der Ermordung des Gaius Julius Caesar 44 v. Chr. und dem damit verbundenen endgültigen Scheitern der Republik kam es zu Machtkämpfen zwischen rivalisierenden Gruppen, was zu Instabilität, Aufständen und Bürgerkriegen führte. Diese Unruhen endeten erst im Jahr 27 v. Chr., nachdem Oktavian die Truppen von Markus Antonius und Kleopatra in der Schlacht von Actium besiegt hatte und nun mit dem Titel Augustus (,der Erhabene') zum ersten römischen Kaiser ernannt wurde. 

Beachten Sie, wie Augustus in der Inschrift als ,göttlich' bezeichnet wird! Er wird ,Retter' genannt, ,offenbarer Gott' und ,Ursache für Ordnung und Frieden'. Deshalb hält die Inschrift fest, dass seine Geburt eine ,gute Nachricht' für die ganze Welt war.

,Evangelium' in der jüdischen Welt

Wie haben nun die judenchristlichen Leser des Markus das Wort ,Evangelium' verstanden? Welche guten Nachrichten haben sie erwartet? Um das herauszufinden, müssen wir uns zunächst das Alte Testament ansehen, im Besonderen das Buch Jesaja. Die ersten 39 Kapitel enthalten meist düstere Unheilsprophezeiungen. Aber ab Kapitel 40 ändert sich der Ton. Gott spricht seinem Volk nun Trost zu. Wir lesen:​

Tröstet, tröstet mein Volk, /
spricht euer Gott.
Redet Jerusalem zu Herzen
und ruft ihr zu,
dass sie vollendet hat ihren Frondienst, /
dass gesühnt ist ihre Schuld ...
(Jes 40, 1-2)

In Vers 9 heißt es dann weiter:

Steig auf einen hohen Berg, /
Zion, du Botin der Freude!
Erheb deine Stimme mit Macht, /
Jerusalem, du Botin der Freude!
Erheb deine Stimme, fürchte dich nicht! /
Sag den Städten in Juda ... 
(Jes 40, 9)

Jesaja soll im Auftrag Gottes die ,gute Botschaft' oder das ,Evangelium' verkünden, von den Berggipfeln bis zu den Städten Judas. Was ist das für eine gute Nachricht, die er verkünden soll? Lesen wir weiter:

Sag den Städten in Juda: /
Siehe, da ist euer Gott.
Siehe, GOTT, der Herr, kommt mit Macht, /
er herrscht mit starkem Arm.
Siehe, sein Lohn ist mit ihm, /
und sein Ertrag geht vor ihm her.
(Jes 40, 9-10)
 

Die ,gute Nachricht' oder das ,Evangelium' für die Juden bezog sich auf das Kommen des „Herrn mit Macht“. Markus will seinen Lesern sagen, dass diese Prophezeiung durch Jesus erfüllt wurde. In ihm ist Gott wirklich zu uns gekommen.​

Wir sehen, dass Markus nur ein paar Worte braucht, um seinen heidnischen und jüdischen Lesern mitzuteilen, dass Jesus sowohl Gott als auch der Erlöser ist.

Jesus

Aber Jesus war nicht nur Gott und Erlöser, er war auch Mensch. Markus weist darauf hin, indem er seinen Namen nennt. ,Jesus' war ein geläufiger männlicher Vorname in Israel, und darum bezeugt er sein Menschsein. Jesus hatte einen menschlichen Namen, weil er ein Mensch war. Etymologisch bedeutet dieser Name ,Gott rettet'. Das ,Evangelium' oder die ,gute Nachricht' des Markus lautet daher, dass in diesem Menschen namens Jesus Gott selber gekommen ist, um bei uns zu sein und um uns zu retten. 

 

,Jesus' ist die griechische Form des hebräischen Namens Joshua. Damit wird angedeutet, dass Jesus der neue Josua ist. Was hat Josua getan? Im Alten Testament lesen wir, wie er die Israeliten in das Gelobte Land führte. Jesus wird dasselbe tun: Er wird uns in das verheißene Land, in das Himmelreich führen.

,Christus'

​,Christus' ist nicht der zweite Name Jesu. Es ist die griechische Übersetzung des hebräischen Wortes mashiach, was ,Messias' oder ,Gesalbter' bedeutet. Es ist also ein Titel. Im Alten Testament bezieht sich dieser Titel speziell auf David und die nachfolgenden Könige seiner Dynastie. Die Juden glaubten, dass ihre Könige die Vasallen oder Statthalter Gottes auf Erden seien. Die Heiden dagegen haben ihre Könige oft vergöttlicht. Denken Sie an den römischen Kaiser, der, wie wir oben gesehen haben, als Gott verehrt wurde. Die jüdischen Könige wurden ,Messias, Gesalbter' genannt, weil sie mit Öl gesalbt wurden. Dies war das Zeichen ihrer von Gott verliehenen Autorität und machte gleichzeitig deutlich, dass sie nicht göttlicher Natur waren.

So lesen wir in 1 Samuel 16, 13 wie David gesalbt wurde:

Samuel nahm das Horn mit dem Öl und salbte David mitten unter seinen Brüdern. Und der Geist des HERRN war über David von diesem Tag an.

Davids Sohn Salomo wurde ebenfalls gesalbt, als er König wurde, ebenso sein Enkel Rehabeam. Diese Tradition setzte sich fort bis zum letzten König. Mit der Aussage, dass Jesus der Christus ist, will Markus deutlich machen, dass er der gesalbte König ist. Er ist also nicht nur der neue Josua, sondern auch der neue König David.

,Sohn Gottes'

Da die Römer den Kaiser als Gott verehrten, lautete einer seiner vielen Titel ,Sohn Gottes'. Indem Markus Jesus so nennt, sagt er damit seinen heidenchristlichen Lesern, dass Jesus göttlich ist. Seine judenchristlichen Leser hätten dagegen etwas anderes darunter verstanden. Im Alten Testament wurden Israels Könige ,Söhne Gottes' genannt.

Den Beschluss des HERRN will ich kundtun. /

Er sprach zu mir: Mein Sohn bist du.
Ich selber habe dich heute gezeugt.
Fordere von mir und ich gebe dir die Völker zum Erbe
und zum Eigentum die Enden der Erde. (Ps 2, 7-8)

Aber das bedeutete nicht, dass sie göttlich waren, sondern vielmehr, dass sie sich einer besonderen Beziehung zu Gott erfreuten, weil sie die Gnade der göttlichen ,Adoption‘ empfangen hatten. Bei der Taufe Jesu wird seine göttliche Sohnschaft bestätigt, indem er ,geliebter Sohn' genannt wird.

Schlussfolgerung

Anfang des Evangeliums von Jesus Christus, Gottes Sohn. (Mk 1, 1)​

In diesem ersten Satz scheint bereits die Genialität des Markus auf. Einerseits ist sein Stil schlicht und leicht zu lesen. Kein Leser wird sich überfordert fühlen oder Verständnisschwierigkeiten haben. Aber auf einer tieferen Ebene bekundet Markus mit diesem Satz, dass Jesus der Gott-mit-uns ist, der uns als der neue Josua und der neue David durch eine neue Schöpfung das Heil bringen wird. Das ist die Botschaft des Markus oder eine ,gute Nachricht' für uns. Es ist eine Botschaft, die die Macht zur Veränderung der Welt in sich trägt. Das ist ganz schön viel Bedeutung für einen so schlichten Satz.

Aufgaben

  • Prägen Sie sich Mk 1, 1 ein!​

  • Schreiben Sie für jedes der fünf wichtigsten Wörter in Mk 1, 1 seine Beziehung zum Alten Testament und zur griechisch-römischen Kultur auf! Sie können dabei das Word- oder PDF-Format verwenden.

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