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Lektion 1

Die Bibel als Menschenwort

Painting of Saint Mark writing his Gospel

(British Library, CC0, via Wikimedia Commons)

Übersicht

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Gott spricht zu uns durch die Bibel, weil sie sein inspiriertes Wort ist. Andererseits wissen wir auch, dass jedes der biblischen Bücher von einem oder mehreren Verfassern niedergeschrieben wurde. Diese brachten zu Papier, was ihren individuellen Fähigkeiten, ihrer Kreativität und ihrer Schaffenskraft entsprach. Sie sind also ebenfalls Autoren der Bibel, die deshalb nicht nur Gottes Wort, sondern auch Menschenwort ist. Damit wir verstehen, was Gott uns durch die Bibel sagen will, müssen wir zunächst verstehen, was die menschlichen Autoren sagen wollten.

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Lernziele

 

Sie werden diese Lerneinheit erfolgreich beendet haben, wenn Sie

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  • erklären können, inwiefern menschliche Autoren wirklich Autoren der Bibel sind; 

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  • die Untersuchungsmethoden der Exegeten beschreiben können, mit deren Hilfe diese verstehen wollen, was die menschlichen Autoren der Bibel sagen wollten.

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Gott ist der Autor der Bibel

 

Als Christen glauben wir, dass die Bibel das Wort Gottes ist. Darüber sagt der Katechismus der Katholischen Kirche:

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In der Heiligen Schrift findet die Kirche ständig ihre Nahrung und ihre Kraft, denn in ihr empfängt sie nicht nur ein menschliches Wort, sondern was die Heilige Schrift wirklich ist: das Wort Gottes. (KKK 104)

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Denn die heilige Mutter Kirche hält aufgrund apostolischen Glaubens die Bücher sowohl des Alten wie des Neuen Testamentes in ihrer Ganzheit mit allen ihren Teilen für heilig und kanonisch, weil sie, auf Eingebung des Heiligen Geistes geschrieben, Gott zum Urheber [Autor] haben und als solche der Kirche übergeben sind. (KKK 105)

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Das bedeutet, dass​ Gott der Autor der Bibel ist und durch sie zu uns spricht.

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Durch alle Worte der Heiligen Schrift sagt Gott nur ein Wort: sein eingeborenes Wort, in dem er sich selbst ganz aussagt. (KKK 102)

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Aus diesem Grund hat die Kirche stets die Schriften verehrt, so wie sie auch den Leib des Herrn verehrt. (vgl. KKK 103) Und doch wurde jedes der biblischen Bücher von einem oder mehreren Autoren geschrieben. Wir wissen zum Beispiel, dass David viele Psalmen verfasste, Lukas ein Evangelium schrieb und Paulus viele Briefe, die wir im Neuen Testament finden. Daher können wir sagen, dass die biblischen Bücher nicht nur Gottes Wort sind, sondern auch Menschenwort.

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Um sich den Menschen zu offenbaren, spricht Gott in seiner entgegenkommenden Güte zu den Menschen in menschlichen Worten: ,,Gottes Worte, durch Menschenzunge ausgedrückt, sind menschlicher Rede ähnlich geworden, wie einst des ewigen Vaters Wort durch die Annahme des Fleisches menschlicher Schwachheit den Menschen ähnlich geworden ist." (KKK 101) 

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Was meinen wir damit, dass sich Gottes Worte in menschlichen Worten ausdrücken? Diese Frage wollen wir im Laufe dieses Kurses beantworten. Zunächst jedoch wollen wir untersuchen, inwiefern die menschlichen Autoren wirkliche Autoren der Bibel sind. Außerdem werden wir darlegen, wie man die Bibel lesen und analysieren sollte, um zu verstehen, was die Verfasser sagen wollten.

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Gott spricht zu uns durch Menschenwort

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Zum Einstieg kann es hilfreich sein, die Bedeutung der Bibel für uns Christen mit der Auffassung der Moslems über den Koran zu vergleichen. Auch die Moslems glauben – so wie wir Christen in Bezug auf die Bibel – dass Gott der Urheber des Korans ist. Allerdings unterscheidet sich die Sicht darauf, wie sich diese Urheberschaft ereignete, fundamental zwischen Christen und Moslems. Letztere glauben, dass der Koran als Wort Gottes direkt vom Himmel gekommen sei. Und zwar habe Gott alle Wörter des Korans dem Erzengel Gabriel übergegeben, der sie dann Mohammed diktiert habe. Mohammed lernte die Worte auswendig und schrieb sie anschließend nieder – exakt so, wie er sie erhalten hatte. Dabei durfte er nichts hinzufügen oder weglassen. Die Rolle Mohammeds glich der eines guten Sekretärs, der eine diktierte Nachricht ohne Hinzufügung oder Veränderung getreu aufschreibt.

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Wir Christen glauben nicht, dass Gott die Bibel in dieser Weise verfasst hat. So wie wir glauben, dass Jesus wahrer Gott und wahrer Mensch ist, so glauben wir auch, dass die Bibel Gottes Wort und zugleich Menschenwort ist. ​Wir werden in der nächsten Lerneinheit erklären, was damit gemeint ist: Die Bibel ist Gottes Wort, weil er sie geschrieben hat. Gleichzeitig betrachten wir Christen die Bibel auch als ein von vielen Autoren verfasstes Buch.

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Die Bibel ist einerseits ein einziges abgeschlossenes Buch, gleichzeitig aber auch eine Zusammenstellung von mehreren Büchern. Als abgeschlossenes Buch erzählt sie eine einheitliche Geschichte, zu der jedes einzelne Buch wiederum etwas beiträgt. Die verschiedenen Bücher wurden über einen Zeitraum von mehr als tausend Jahren niedergeschrieben. Jedes Buch hatte einen oder mehrere menschliche Verfasser, die das aufschrieben, was ihnen wichtig war. Das taten sie entsprechend ihrer individuellen Fähigkeiten, ihrer Kreativität und ihrer Schaffenskraft. Gleichzeitig wurden sie bei diesem Prozess von Gott inspiriert, das aufzuschreiben, was ihm wichtig war. Sie stellten selbständig Nachforschungen über Ereignisse an, ordneten diese nach einer bestimmten Struktur und wählten aus, was sie aufnehmen und was sie übergehen wollten. Auch ihre Wortwahl war individuell. Das was sie aufschrieben, war geprägt von ihren eigenen Interessen, ihren schriftstellerischen Fähigkeiten, ihrem Schreibstil, und ihrer Kultur. Deshalb können wir zu Recht sagen, dass sie ihre Bücher selber verfasst haben.

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Dieser Prozess wird besonders deutlich am Lukas-Evangelium. Dort heißt es in den Eingangsversen:

 

Schon viele haben es unternommen, eine Erzählung über die Ereignisse abzufassen, die sich unter uns erfüllt haben. Dabei hielten sie sich an die Überlieferung derer, die von Anfang an Augenzeugen und Diener des Wortes waren. Nun habe auch ich mich entschlossen, nachdem ich allem von Beginn an sorgfältig nachgegangen bin, es für dich, hochverehrter Theophilus, der Reihe nach aufzuschreiben. So kannst du dich von der Zuverlässigkeit der Lehre überzeugen, in der du unterwiesen wurdest. (Lk 1, 1-4)

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Lukas war zwar durch Gott inspiriert, entschied aber aus eigenem Antrieb, an Theophilus zu schreiben. Das war seine eigene Entscheidung. Gott hatte ihm nicht mittels einer Vision befohlen: „Lukas, ich möchte, dass du ein weiteres Evangelium schreibst.“ Er kam selbst auf diese Idee, und nachdem er sich einmal entschieden hatte, untersuchte er gewissenhaft die Fakten, sprach mit Augenzeugen und verfasste einen geordneten Bericht über das, was er erfahren hatte. Er hätte die Sache auch anders angehen können, das tat er aber nicht. Er entschied sich für diese Vorgehensweise.

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So lesen wir zum Beispiel nur in seinem Evangelium, dass Jesus am Ölberg Blut geschwitzt hat. Wir wissen, dass Lukas Arzt war, deswegen interessierten ihn vermutlich solche Sachverhalte. Als Verfasser des Evangeliums entschied er also, was er aufnehmen wollte: nämlich das, was sein Interesse geweckt hatte. Dazu führt der Katechismus aus:

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Gott hat die menschlichen Verfasser [Autoren] der Heiligen Schrift inspiriert. ,,Zur Abfassung der Heiligen Bücher aber hat Gott Menschen erwählt, die ihm durch den Gebrauch ihrer eigenen Fähigkeiten und Kräfte dazu dienen sollten, all das und nur das, was er – in ihnen und durch sie wirksam – selbst wollte, als wahre Verfasser [Autoren] schriftlich zu überliefern." (KKK 106)

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Beachten, was die menschlichen Autoren sagen wollten

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Obwohl Gott durch die biblischen Autoren wirkte, bleiben sie doch die Verfasser ihrer Bücher und Briefe. Ihnen war nicht bewusst, dass Gott durch sie sprach. Sie schrieben nieder, was immer sie wollten. Aber auf welche Weise spricht dann Gott durch ihre Schriften? Die Kirche lehrt uns, dass alles, was „die inspirierten Verfasser oder Hagiographen aussagen, als vom Heiligen Geist ausgesagt gelten muß“ (KKK 107). Daher müssen wir, wenn wir die Botschaft Gottes an uns verstehen wollen, in einem ersten Schritt herauszufinden suchen, was die menschlichen Autoren sagen wollten. Der Katechismus bekräftigt:

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In der Heiligen Schrift spricht Gott zum Menschen nach Menschenweise. Um die Schrift gut auszulegen, ist somit auf das zu achten, was die menschlichen Verfasser wirklich sagen wollten und was Gott durch ihre Worte uns offenbaren wollte. (KKK 109)

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Für manche Teile der Bibel kann es recht einfach sein zu erkennen, was die menschlichen Autoren meinen, aber bei anderen Teilen ist es schwierig, weil die Textaussage nicht klar ist. Lebten die Autoren noch, so könnten wir sie darüber befragen, aber leider sind sie schon seit hunderten, zum Teil sogar seit mehr als tausend Jahren tot. Sie haben uns nur ihre Schriften zurückgelassen, die wir nun analysieren müssen, um herauszufinden, was sie sagen wollten. Das erfordert große Sorgfalt und Erfahrung, und die Bibelwissenschaftler sind oft nicht einer Meinung.

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Die Exegese als Teil​ der Theologie arbeitet die Bedeutung eines Bibeltextes heraus. Daher werden Bibelwissenschaftler manchmal Exegeten genannt. Sie müssen Hebräisch und Griechisch lernen, damit sie die Bibel in den Originalsprachen lesen können. Aber Sprachen verändern sich mit der Zeit. Deshalb ist es für uns eine Herausforderung, mittelhochdeutsche Werke zu lesen. Die Abweichungen in Rechtschreibung, Wortgebrauch und Grammatik machen es uns schwer, die Aussage des Autors zu verstehen.

 

Dasselbe gilt für Hebräisch und Griechisch. Die Sprachen haben sich mit der Zeit so sehr verändert, dass es Wörter und Ausdrücke im Bibeltext gibt, die wir einfach nicht verstehen. Auch haben wir keine antiken Wörterbücher, die uns bei der Übersetzung helfen könnten. Deshalb beruht die Interpretation manchmal auf Mutmaßungen.

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Außerdem wurden die biblischen Bücher in Kulturen geschrieben, die vollkommen anders waren als unsere. Also müssen Exegeten diese Kulturen studieren, um die Bibel zu verstehen. Sie müssen wissen, wie die Leute damals gesprochen und geschrieben haben, und ihre Redewendungen kennen. Auch müssen sie die literarischen Gattungen in der Bibel studieren. Eine Botschaft lässt sich auf unterschiedliche Weise kommunizieren. Was wollten die Autoren sagen? Haben sie ein historisches Ereignis beschrieben? Legten sie besonderen Wert auf etwas und stellten es deshalb bildhaft dar? Haben sie Empfindungen in einem Gedicht ausgedrückt? All dies macht einen Unterschied bei dem Versuch, den Sinn der Worte zu verstehen.

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Man kann Exegese auf verschiedene Weise betreiben, aber zwei wesentliche Dinge müssen beachtet werden, wenn sie sorgfältig erfolgen soll:

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  1. der Glaube – der christliche Exeget sollte glauben, dass Gott existiert, in unserem Leben wirkt und ​mit uns Menschen in Verbindung steht;

  2. die Vernunft – da die biblischen Bücher von menschlichen Autoren geschrieben wurden, können und sollten wir sie so analysieren, wie wir jeden anderen geschriebenen Text untersuchen.

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Literarkritik (oder Literaturwissenschaft) ist eine akademische Disziplin, die uns ein Instrumentarium an die Hand gibt, mit dem wir literarische Werke untersuchen, auswerten und interpretieren können. Da die Bibel ein von Menschen geschriebenes Buch ist, sollten wir dieses Instrumentarium bei unseren Untersuchungen anwenden; aber wir sollten dies immer – wie bereits erwähnt – im Kontext des Glaubens tun. Schließlich ist die Bibel auch ein Buch Gottes, wie wir in der nächsten Lektion sehen werden.

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Aufgaben

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  • Was meinen wir mit der Aussage, dass Gott zu uns durch Menschen spricht?

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  • Warum ist es bei der Bibellektüre wichtig herauszufinden, was die menschlichen Autoren sagen wollen? Wie gehen Exegeten dabei vor?

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  • Da wir die Bibel auch als ein Buch mit einer durchgehenden Geschichte betrachten können, beschreiben Sie die Rahmenhandlung dieser Erzählung!

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