top of page

Lektion 5

Zunehmende Opposition und Ablehnung

"Healing of the man born blind" by El Greco

Übersicht

​​

Die Handlung verdichtet sich in diesem Teil des Evangeliums. Jesus fährt fort, wichtigen Elementen des Alten Testaments eine neue Deutung zu geben und sie dadurch zu erneuern. So interpretiert er in diesem Abschnitt die Bedeutung des Sabbats und des Mannas neu und gibt dem Laubhüttenfest und dem Tempelweihfest (Chanukka) einen neuen Sinn. Er nennt Gott seinen Vater und bezeichnet sich als den guten Hirten. Jesu Taten und Lehren führen zunehmend zu Spaltungen unter den Menschen, und seine Feinde beginnen unverhohlen, ihn zu verfolgen. 

​

​

Lernziele

 

Sie werden diese Lektion erfolgreich abgeschlossen haben, wenn Sie

​

  • erklären können, warum Jesus am Sabbat gewirkt hat;

​​

  • beschreiben können, wie Jesus sich als der neue Mose präsentiert, der uns das neue Manna reichen wird;

​​

  • beschreiben können, wie Jesus das Laubhüttenfest und das Tempelweihfest (Chanukka) neu interpretiert hat;

​​

  • das Bild Jesus als Guter Hirte erklären können.

​

​

Einführung

​

In diesem Teil des Buches der Zeichen (Kapitel 5 bis 10) fährt Jesus fort, die Institutionen und Traditionen des Alten Bundes zu erneuern, indem er sie erfüllt und ihnen eine neue Bedeutung gibt. Auch der Glaube bleibt ein wichtiges Thema.

​

Amen, amen, ich sage euch: Wer mein Wort hört und dem glaubt, der mich gesandt hat, hat das ewige Leben; er kommt nicht ins Gericht, sondern ist aus dem Tod ins Leben hinübergegangen. (5, 24)

​

Jesus antwortete ihnen: Das ist das Werk Gottes, dass ihr an den glaubt, den er gesandt hat. (6, 29)

​

Wer Durst hat, komme zu mir und es trinke, wer an mich glaubt! Wie die Schrift sagt: Aus seinem Inneren werden Ströme von lebendigem Wasser fließen. (7, 38)

​

Ich habe euch gesagt: Ihr werdet in euren Sünden sterben; denn wenn ihr nicht glaubt, dass ich es bin, werdet ihr in euren Sünden sterben. (8, 24)

​

Glaubst du an den Menschensohn? (9, 35)

​

Wenn ich nicht die Werke meines Vaters vollbringe, dann glaubt mir nicht! Aber wenn ich sie vollbringe, dann glaubt wenigstens den Werken, wenn ihr mir nicht glaubt! Dann werdet ihr erkennen und einsehen, dass in mir der Vater ist und ich im Vater bin. (Joh 10, 37-38)

​

Doch steigt die Spannung innerhalb des Handlungsbogens dramatisch an, da die Taten und Lehren Jesu zunehmend zu Spaltungen unter den Menschen führen. Einige reagieren positiv auf seine Einladung, an ihn zu glauben. 

​

Aus der Menge kamen viele Leute zum Glauben an ihn. (7, 31)

​

Als Jesus das sagte, kamen viele zum Glauben an ihn. (8, 30)

​

Und viele kamen dort zum Glauben an ihn. (10, 42)

​

Aber andere, besonders seine Brüder und die religiösen Autoritäten, glauben nicht an ihn.

​

​Auch seine Brüder glaubten nämlich nicht an ihn. (7, 5)

​

Die Pharisäer antworteten ihnen: Werdet ihr in die Irre geführt, ihr auch? Hat eine der Autoritäten oder der Pharisäer an ihn geglaubt? Aber diese Menge, die das Gesetz nicht kennt, ist verflucht. (7, 47-49)

​

Wegen ihres Mangels an Glauben lehnen sie Jesus nicht nur ab, sondern beginnen ihn zu verfolgen:

​

Daraufhin verfolgten die Juden Jesus, weil er das an einem Sabbat getan hatte. (5, 16)

 

Sie versuchen, ihn zu verhaften:

​

Die Pharisäer hörten, was die Leute heimlich über ihn redeten. Da schickten die Hohepriester und die Pharisäer Gerichtsdiener aus, um ihn festnehmen zu lassen. (7, 32)

​

Und sie versuchen sogar, ihn zu töten:

​

Danach zog Jesus in Galiläa umher; denn er wollte sich nicht in Judäa aufhalten, weil die Juden ihn zu töten suchten. (7, 1)

​

Johannes hatte bereits im Prolog vor dieser Entwicklung gewarnt:

​

Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf. (1, 11)

​

Wir werden nun die Hauptteile dieses Abschnitts näher betrachten, um zu verstehen, was sie zum weiteren Verlauf der Handlung beitragen.

​

​

Der Sabbat neu gedeutet

​

Die dritte Zeichenhandlung Jesu ist die Heilung eines Gelähmten. Indem er dieses Wunder am Sabbat wirkte, gab er dem Sabbat einen neuen Sinn und Zweck.

​

Danach war ein Fest der Juden und Jesus ging hinauf nach Jerusalem. In Jerusalem gibt es beim Schaftor einen Teich, zu dem fünf Säulenhallen gehören; dieser Teich heißt auf Hebräisch Betesda. In diesen Hallen lagen viele Kranke, darunter Blinde, Lahme und Verkrüppelte. Dort lag auch ein Mann, der schon achtunddreißig Jahre krank war. Als Jesus ihn dort liegen sah und erkannte, dass er schon lange krank war, fragte er ihn: Willst du gesund werden? Der Kranke antwortete ihm: Herr, ich habe keinen Menschen, der mich, sobald das Wasser aufwallt, in den Teich trägt. Während ich mich hinschleppe, steigt schon ein anderer vor mir hinein. Da sagte Jesus zu ihm: Steh auf, nimm deine Liege und geh! Sofort wurde der Mann gesund, nahm seine Liege und ging. (5, 1)

​

Wir wissen nicht, wann dieses Heilungswunder geschah, da Johannes schreibt: „Danach gab es ein Fest der Juden, und Jesus ging hinauf nach Jerusalem“. Es geschah also nach dem vorherigen Wunder – der Heilung des Sohnes des königlichen Beamten –, aber uns wird nicht gesagt, wie viel Zeit zwischen den beiden Ereignissen lag. Es wird auch nicht gesagt, um welches Fest es sich handelte, sondern nur, dass ein Fest der Juden gefeiert wurde.

 

Welches Fest hätte es nun sein können? Mehrere Antworten werden vorgeschlagen. Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass es sich um das Wochenfest (Schawuot) gehandelt haben könnte. Zum einen wird vorher im Evangelium das Paschafest erwähnt. Nach dem jüdischen Kalender folgt Schawuot sieben Wochen (50 Tage) nach dem Paschafest. Zum anderen wird gesagt, dass dieses dritte Zeichen an einem Sabbat stattfand, und das Wochenfest fiel immer auf einen Sabbat. Außerdem würde diese These auch erklären, warum Jesus, der in Galiläa gewirkt hatte, nach Jerusalem hinaufzog. Nach jüdischem Recht gehörte Schawuot zu den drei Festen, an denen jüdische Männer verpflichtet waren, nach Jerusalem zu pilgern, um dort die entsprechenden Opfer darzubringen. Aber dieses ist nur eine von mehreren Thesen. Andere Exegeten meinen, es könne sich um das Laubhüttenfest oder das Neujahrsfest, Rosch ha-Schana, oder sogar das nächste Paschafest gehandelt haben.

​

Wir können also nicht mit Sicherheit sagen, auf welches Fest Bezug genommen wird, aber das spielt wahrscheinlich auch keine Rolle. Das Besondere an diesem Abschnitt ist, dass dies das einzige namenlose Fest im ganzen Evangelium ist. Es ist möglich, dass Johannes das Fest deshalb nicht näher bezeichnet hat, um uns nicht von einem anderen wichtigen Detail abzulenken, auf das wir achten sollten: nämlich dass sich dieses Zeichen an einem Sabbat ereignete.

 

Dieses Wunder Jesu bereitet den Weg vor für die sich anschließende Diskussion, die sich auf die Bedeutung des Sabbats bezieht. Zur Zeit Jesu glaubte man gemeinhin, dass das mosaische Gesetz eine Heilung an diesem Tag verbot. Wir lesen dazu im Lukasevangelium:

​

Der Synagogenvorsteher aber war empört darüber, dass Jesus am Sabbat heilte, und sagte zu den Leuten: Sechs Tage sind zum Arbeiten da. Kommt also an diesen Tagen und lasst euch heilen, nicht am Sabbat!

(Lk 13, 14)

​

Der Jerusalemer Talmud (eine Zusammenstellung der schriftlichen und mündlichen Auslegungen jüdischer Gesetze) enthält sogar das Verbot, an einem Sabbat jene Teile der Heiligen Schrift zu rezitieren, die für Heilungen und Exorzismen verwendet werden. Andere rabbinische Schriften verbieten ausdrücklich das Tragen des eigenen Bettes am Sabbat. Obwohl diese Gebote erst Jahrhunderte später niedergeschrieben wurden, ist es sehr wahrscheinlich, dass diese Regeln bereits zur Zeit Jesu galten. Deshalb sagten die Juden zu dem Geheilten: Es ist Sabbat, du darfst deine Liege nicht tragen" (5, 10).

​

Tatsächlich war die Heiligung des Sabbats für die Juden so wichtig, dass dies einer der Hauptgründe für die Gegner Jesu war, ihn umzubringen: Daraufhin verfolgten die Juden Jesus, weil er das an einem Sabbat getan hatte." (5, 16). Die Behandlung dieser Frage muss daher für Jesus eine hohe Priorität gehabt haben. Er bricht das Sabbatgebot ständig, um dadurch die wahre Bedeutung des Sabbats erklären zu können.

 

  • Er erlaubt seinen Jüngern, am Sabbat Ähren abzureißen. (vgl. Mk 2, 23; Mt 12, 1).

  • Er lehrt, dass der Sabbat für den Menschen gemacht wurde und der Menschensohn Herr über den Sabbat ist (vgl. Mk 2, 27-28; Mt 12, 8).

  • Er heilt einen Mann mit einer verdorrten Hand (vgl. Mk 3, 5; Mt 9, 13).

  • Er heilt eine verkrüppelte Frau (vgl. Lk 13, 10-17).

  • Er heilt einen Mann mit Wassersucht (vgl. Lk 14, 1-6).

  • Er schenkt einem blind geborenen Mann das Augenlicht (vgl. Joh 9).

​

In den synoptischen Evangelien verteidigt Jesus seine Taten mit humanitären Gründen:

​

Da antwortete ihm der Herr: Der Herr erwiderte ihm: Ihr Heuchler! Bindet nicht jeder von euch am Sabbat seinen Ochsen oder Esel von der Krippe los und führt ihn zur Tränke? Diese Frau aber, die eine Tochter Abrahams ist und die der Satan schon seit achtzehn Jahren gefesselt hielt, sollte am Sabbat nicht davon befreit werden dürfen? (Lk 13, 15-16)

​

Aber im Johannes-Evangelium argumentiert er theologisch: „Jesus aber entgegnete ihnen: Mein Vater wirkt bis jetzt und auch ich wirke" (5, 17). Was könnte er damit gemeint haben? Laut Genesis ruhte Gott am siebten Tag der Schöpfung von seinem schöpferischen Wirken (vgl. Gen 2, 2-3). Daraus leitet sich die Sabbatruhe ab. Zwar wurde die Sabbatruhe von allen Juden akzeptiert, aber die Rabbiner diskutierten darüber, wie weit diese Ruhe ging. Die meisten Rabbiner waren sich darin einig, dass Gott noch immer wirkt. Denn ohne den beständigen Akt, in seiner Vorsehung das Universum zu erhalten, würde es aufhören zu existieren. So glaubten die Rabbiner auch, dass Gott weiterhin Leben schenkt, das Gute belohnt und das Böse bestraft – sogar am Sabbat.

 

Jesus bezieht sich mit seiner Antwort auf diese Gottesvorstellung. Er heilte am Sabbat, weil er dem Präzedenzfall folgte, den sein Vater geschaffen hatte. Wenn der Vater am Sabbat Leben schenken kann (Kinder werden an diesem Tag empfangen und geboren, wie an jedem anderen Tag der Woche), dann kann der Sohn auch am Sabbat heilen. Aber das erzürnte die Juden umso mehr.

​

Darum suchten die Juden noch mehr, ihn zu töten, weil er nicht nur den Sabbat brach, sondern auch Gott seinen Vater nannte und sich damit Gott gleichmachte. (5, 18)

​

Letzteres war ein weiterer Grund für sie, ihn zu töten. Den Sabbat zu brechen, war verwerflich genug, aber Gott seinen Vater zu nennen, hob aus ihrer Sicht die Unterscheidung zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen auf.

​

Jesus verteidigt sich, indem er auf seine Zeugen verweist: nämlich auf Johannes den Täufer, auf seine eigenen Werke, auf den Vater – der bei seiner Taufe über ihn sprach –, und auf die Schrift, die auf ihn vorausdeutet. Aber er erkennt auch, dass die Juden dieses Zeugnis nicht akzeptieren wollen.

​

​

Mose und das neu gedeutete Manna

​

Im nächsten Kapitel greift Johannes noch einmal auf Exodus-Bilder zurück, um Jesus als den neuen Mose vorzustellen, der uns das neue Manna, das Brot des Himmels, gibt. Um dies zu verstehen, müssen wir zunächst den ursprünglichen Exodus betrachten: Wie Gott Mose beruft, um das Volk Israel aus der Sklaverei in Ägypten zu befreien.

​

Nachdem die Israeliten Ägypten verlassen hatten, führte Mose sie zum Berg Sinai, um einen Bund mit Gott zu schließen. Danach zog das Volk Israel 40 Jahre durch die Wüste, ehe sie das Gelobte Land erreichten. Dort, in der Wüste, prüfte Gott sie schwer. Gleichzeitig aber sorgte er auch für sie, indem er ihnen Manna gab, das Brot vom Himmel, als Nahrung für ihre Reise.

 

Brant Pitre weist zu Recht darauf hin, dass das Manna viel mehr als nur Nahrung war. Es war auch ein Vorgeschmack auf das Gelobte Land [1]. Wie das? Es heißt über das Manna: „​Es war weiß wie Koriandersamen und schmeckte wie Honigkuchen(Ex 16, 31).  Mit ähnlichen Worten beschreibt Gott das Gelobte Land: ein Land, in dem Milch und Honig fließen. In gewisser Weise schmecken die Israeliten durch das Mannas bereits die Früchte des verheißenen Landes. Das Manna war nicht nur Nahrung für ihren Körper, sondern nährte auch ihre Hoffnung. Nachdem sie das Land betreten hatten, stellte Gott die Versorgung mit Manna ein. Ihre Hoffnung musste nicht mehr genährt werden: Sie waren im Land angekommen.

​

Kommen wir auf Jesus zurück. Wir lesen, dass er – wie Mose – mit seinen Jüngern den Berg hinaufstieg, gefolgt von einer großen Menschenmenge. Und dann – ebenfalls wie Mose – gab er der Menge zu essen. Als die Menschen dieses Zeichen sahen, sagten sie: „​Das ist wirklich der Prophet, der in die Welt kommen soll!" (6, 14). Auf welchen Propheten bezogen sie sich? Wir haben bereits in einer früheren Lektion gesehen, dass, wann immer die Juden von „dem Propheten“ sprachen, sie den Propheten meinten, den Gott dem Mose verheißen hatte. „​Einen Propheten wie dich will ich ihnen mitten unter ihren Brüdern erstehen lassen" (Dtn 18, 18).

​

Das Volk erkannte, dass Jesus sich durch dieses Wunder als der neue Prophet offenbarte – das heißt als der neue Mose –, und wollte ihn deshalb zum König machen. Aber er entzog sich ihnen, weil es nicht das war, was er im Sinn hatte. Daraufhin machten sie sich auf die Suche nach ihm, und als sie ihn in Kafarnaum fanden, hielt er seine sogenannte Rede über das Himmelsbrot. Er sagte:

​

Amen, amen, ich sage euch: Ihr sucht mich nicht, weil ihr Zeichen gesehen habt, sondern weil ihr von den Broten gegessen habt und satt geworden seid. Müht euch nicht ab für die Speise, die verdirbt, sondern für die Speise, die für das ewige Leben bleibt und die der Menschensohn euch geben wird! Denn ihn hat Gott, der Vater, mit seinem Siegel beglaubigt. (6, 26-27)

​

Die Menschen wollen gewöhnliches Brot, doch Jesus fordert sie auf, nach übernatürlicher Nahrung zu suchen. Dies ist ein weiteres Beispiel dafür, wie Jesus mit Worten spielt, um Menschen vom Natürlichen zum Übernatürlichen zu führen. Er tat dies zuvor bei Nikodemus (wiedergeboren vs. von oben geboren) und der Samariterin (natürliches Wasser vs. lebendiges Wasser). Sodann lädt Jesus die Menschen ein, an ihn zu glauben.

​

Da fragten sie ihn: Was müssen wir tun, um die Werke Gottes zu vollbringen? Jesus antwortete ihnen: Das ist das Werk Gottes, dass ihr an den glaubt, den er gesandt hat. (6, 28-29)

​

Deshalb bitten sie ihn um ein Zeichen, damit sie an ihn glauben können. Das spezifische Zeichen, auf das sie dabei verweisen, ist das Brot vom Himmel, das Manna.

​

Sie sagten zu ihm: Welches Zeichen tust du denn, damit wir es sehen und dir glauben? Was für ein Werk tust du? Unsere Väter haben das Manna in der Wüste gegessen, wie es in der Schrift heißt: Brot vom Himmel gab er ihnen zu essen. Jesus sagte zu ihnen: Amen, amen, ich sage euch: Nicht Mose hat euch das Brot vom Himmel gegeben, sondern mein Vater gibt euch das wahre Brot vom Himmel. Denn das Brot, das Gott gibt, kommt vom Himmel herab und gibt der Welt das Leben. Da baten sie ihn: Herr, gib uns immer dieses Brot! (6, 30-34)

​

Warum gerade dieses Zeichen? Laut Bibel kam das ursprüngliche Manna vom Himmel herab: „Ich will euch Brot vom Himmel regnen lassen" (Ex 16, 4). Einige jüdische Gelehrte verstanden diese Aussage so, als habe es seit Beginn der Schöpfung im Himmel existiert. Sie glaubten auch, dass Gott es nach dem Exodus weiterhin im Himmel aufbewahrte. Aus dieser Tradition entstand die Erwartung, der Messias werde als neuer Mose das Manna zurückbringen. Diese Vorstellung findet sich auch in der folgenden außerbiblischen Schrift:

​

Und nachdem das, was sich in jenen Abschnitten ereignen wird, vollendet ist, alsdann wird der Messias anfangen, sich zu offenbaren. ... Und die, die gehungert haben, sollen reichlich genießen; weiter sollen sie auch an jedem Tag Wunder schauen ... Und zu jener Zeit werden wieder die Mannavorräte von oben herabfallen; und sie werden davon in jenen Jahren essen, weil sie das Ende der Zeiten erlebt haben.  (2. Baruch 29, 3.6.8) [2]

​​

Dieser jüdische Text wurde etwa zur gleichen Zeit wie die späten Bücher des Alten Testaments geschrieben und gehört in der syrisch-orthodoxen Tradition zur Bibel. Von den Juden und den meisten Christen wird er als nicht von Gott inspiriert angesehen. Trotzdem ist 2 Baruch ein wichtiger Text, weil er auf Traditionen zurückgreift, die schon zur Zeit Jesu existiert haben könnten, wie diese über das Manna.

​

Jesus hatte bereits viele Zeichen gewirkt, um zu zeigen, dass er der Messias ist. Aber diese reichten anscheinend nicht aus, um die Menschen zu überzeugen. Deshalb bitten Sie ihn, dass er ihnen immer Brot vom Himmel geben möge. Warum das? Trotz der vielen Wunder Jesu sind die Menschen immer noch nicht sicher, ob er wirklich der Messias ist. Diese Bitte stellt ihn auf die Probe. „Gib uns Brot vom Himmel“ sagen sie. Wegen ihrer Erwartung, der Messias werde das Brot vom Himmel zurückbringen, würde dieses eine Wunder – mehr als jedes andere – alle ihre Zweifel beseitigen.

 

Jesus entgegnet ihnen:

​

Ich bin das Brot des Lebens. Eure Väter haben in der Wüste das Manna gegessen und sind gestorben. So aber ist es mit dem Brot, das vom Himmel herabkommt: Wenn jemand davon isst, wird er nicht sterben. Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel herabgekommen ist. Wer von diesem Brot isst, wird in Ewigkeit leben. Das Brot, das ich geben werde, ist mein Fleisch für das Leben der Welt. (6, 48-51)

​

Das heißt, er ist das wahre Manna vom Himmel. Aber wie kann er ihnen sagen, dass sie sein Fleisch essen sollen? Fördert er den Kannibalismus? Obwohl dies eine für die Juden verabscheuungswürdige Vorstellung ist, besteht er wiederholt darauf, dass seine Jünger sein Fleisch essen und sein Blut trinken sollen.

​

Da stritten sich die Juden und sagten: Wie kann er uns sein Fleisch zu essen geben? Jesus sagte zu ihnen: Amen, amen, ich sage euch: Wenn ihr das Fleisch des Menschensohnes nicht esst und sein Blut nicht trinkt, habt ihr das Leben nicht in euch. Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, hat das ewige Leben und ich werde ihn auferwecken am Jüngsten Tag. Denn mein Fleisch ist wahrhaft eine Speise und mein Blut ist wahrhaft ein Trank. Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, der bleibt in mir und ich bleibe in ihm. Wie mich der lebendige Vater gesandt hat und wie ich durch den Vater lebe, so wird jeder, der mich isst, durch mich leben. Dies ist das Brot, das vom Himmel herabgekommen ist. Es ist nicht wie das Brot, das die Väter gegessen haben, sie sind gestorben. Wer aber dieses Brot isst, wird leben in Ewigkeit. Diese Worte sprach Jesus, als er in der Synagoge von Kafarnaum lehrte. (6, 52-59)

​

Die Sprache Jesu ist sehr handfest-konkret. Die wörtliche Übersetzung von 6, 54 lautet: „Wer mein Fleisch zerkaut und mein Blut trinkt, hat ewiges Leben." Meinte Jesus das wörtlich oder nur symbolisch? Diese Frage führte zu jahrhundertelangen Debatten zwischen Katholiken und Protestanten. Die Katholiken sind davon überzeugt, dass Jesus dies wörtlich gemeint hat. Die Protestanten hingegen glauben, dass er nur symbolisch sprach. Eine ausführliche Analyse dieser komplexen theologischen Frage würde den Rahmen dieses Kurses sprengen. An dieser Stelle möchte ich die Frage nur unter dem folgenden Aspekt betrachten: der typologischen Beziehung zwischen dem alten und dem neuen Manna.

​

Wenn Jesus wirklich der neue Mose ist, dann muss er dessen Beispiel folgen und seinen Jüngern Manna zu essen geben. Dieses neue Manna muss jedoch in seiner Bedeutung größer sein als das ursprüngliche Manna. Das entspricht der Logik der Bibel. Wenn die Vorausdeutungen im Alten Testament bloße Bilder oder Schatten sind, die auf Realitäten im Neuen Testament verweisen, dann müssen diese neuen Realitäten – oder Antitypen, wie sie in der Theologie genannt werden – immer größer sein als ihre entsprechenden Vorausbilder. Das neue Manna, das Jesus gibt, muss also größer in seiner Bedeutung sein als das frühere Manna, das Mose gab.

​

Jesus bekräftigt in der Tat, dass sein Brot dem des Mose weit überlegen ist.

​

Dies ist das Brot, das vom Himmel herabgekommen ist. Es ist nicht wie das Brot, das die Väter gegessen haben, sie sind gestorben. Wer aber dieses Brot isst, wird leben in Ewigkeit. (6, 58)

​

Dies bedeutet jedoch nicht, dass Mose dem Volk nur gewöhnliches Brot gab. Nein! Das Manna, das Mose gab, war wunderbar und übernatürlich. Wie wunderbar war es? Die Bibel nennt es das „Brot der Engel“ (Ps 78, 25). Es war so wunderbar, dass die Israeliten so etwas noch nie zuvor und auch nie wieder danach gesehen hatten. Es war so heilig, dass sie es in der Bundeslade im Allerheiligsten aufbewahrten, zusammen mit den anderen heiligen Gegenständen: den Tafeln der Zehn Gebote und Aarons Stab. Aber das Manna Jesu ist noch größer.

​

Ein typologisches Argument, das für die katholische Sichtweise spricht, lautet wie folgt: In der Logik der Bibel muss ein Antityp – die Realität, auf die der Typos/das Vorausbild verweist – immer größer sein als sein entsprechender Typos, der lediglich ein Bild oder ein Schatten ist. So wunderbar und heilig das Brot war, das Mose gab, das Brot, das Jesus gibt, muss mehr sein. Aus diesem Grund kann es nicht nur gewöhnliches Brot sein.  Es kann auch kein bloßes Symbol für die Gegenwart Gottes sein, denn wenn es nur das wäre, wäre es nicht größer als das Manna, das Mose gab. Das Brot, das Jesus uns gibt, muss das Brot sein, das vom Himmel kommt. Es wird im Vaterunser wörtlich als überirdisch (griech. epi-ousion) bezeichnet, was wir mit unser tägliches Brot wiedergeben. Dieses neue Manna ist wirklich, wie Jesus sagt, sein Leib und sein Blut, und seine Jünger müssen es essen.

 

Die Juden können das nicht annehmen und murren gegen diese Lehre:

​

Viele seiner Jünger, die ihm zuhörten, sagten: Diese Rede ist hart. Wer kann sie hören? Jesus erkannte, dass seine Jünger darüber murrten, und fragte sie: Daran nehmt ihr Anstoß? (6, 60-61)

​

​Aber das sollte uns nicht überraschen. Die Israeliten murrten auch während des Exodus über das Manna:

​

Die Israeliten begannen wieder zu weinen und sagten: Wenn uns doch jemand Fleisch zu essen gäbe! Wir denken an die Fische, die wir in Ägypten umsonst zu essen bekamen, an die Gurken und Melonen, an den Lauch, an die Zwiebeln und an den Knoblauch. Doch jetzt vertrocknet uns die Kehle, nichts bekommen wir zu sehen als immer nur Manna. (Num 11, 4-6)

​

Selbst die Apostel mit ihrem jüdischen Hintergrund haben es schwer, ihn zu verstehen. Doch im Gegensatz zu den anderen hatten sie bereits gelernt, Jesus zu vertrauen, auch wenn er sie schwer verständliche Dinge lehrte.

​

Da fragte Jesus die Zwölf: Wollt auch ihr weggehen? Simon Petrus antwortete ihm: Herr, zu wem sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens. (6, 67-68)

​

Beim Letzten Abendmahl, dem Paschamahl Jesu, werden die Apostel erfahren, auf welche Weise dies möglich ist. Sie müssen nicht das Fleisch von Jesu totem Leichnam essen und sein Blut trinken. Das wäre wirklich Kannibalismus. Jesus sprach vielmehr über das Fleisch und Blut seines gekreuzigten und auferstandenen Leibes. Nach der Auferstehung wurde sein Körper verherrlicht und war daher nicht mehr an Raum und Zeit gebunden.

​

In seiner Rede über das Himmelsbrot sagt Jesus es ganz deutlich: Um am Leben seiner Auferstehung teilzuhaben – dies ist das Ziel des neuen Exodus –, sollen wir seinen Leib essen und sein Blut trinken.

​

​

Das Laubhüttenfest neu gedeutet

​

Das Laubhüttenfest, oder Sukkot auf Hebräisch, ist die nächste jüdische Tradition, die von Jesus neu gedeutet wird. Es war ursprünglich ein landwirtschaftliches Fest, welches das Ende der Erntezeit markierte, wie bei uns das Erntedankfest. Aber im Buch Levitikus wurde ihm auch eine religiöse Bedeutung beigelegt. Neben der Freude über Gottes überreichen Segen und das Ausruhen von der harten Erntearbeit wurde dieses Fest zu einer Erinnerung an Gottes gütige Fürsorge während des Exodus, als die Israeliten in Zelten lebten, während sie 40 Jahre durch die Wüste zogen.

​

Am fünfzehnten Tag des siebten Monats, wenn ihr den Ertrag des Landes erntet, feiert sieben Tage lang das Fest des HERRN! Am ersten und am achten Tag ist Ruhetag. Am ersten Tag nehmt schöne Baumfrüchte, Palmwedel, Zweige von dicht belaubten Bäumen und von Bachweiden und seid sieben Tage lang vor dem HERRN, eurem Gott, fröhlich! Feiert dieses Fest für den HERRN jährlich sieben Tage lang! Das gelte bei euch als ewige Satzung für eure Generationen. Ihr sollt dieses Fest im siebten Monat feiern. Sieben Tage sollt ihr in Hütten wohnen. Alle Einheimischen in Israel sollen in Hütten wohnen, damit eure kommenden Generationen wissen, dass ich die Israeliten in Hütten wohnen ließ, als ich sie aus Ägypten herausführte. Ich bin der HERR, euer Gott. (Lev 23, 39-43)

​

Das Laubhüttenfest dauert sieben Tage, fällt in die Monate September und Oktober und endet mit einer besonderen Feier am achten Tag. Es ist ein sehr beliebtes Fest, und das Gesetz verpflichtete alle dazu fähigen Männer, nach Jerusalem zu pilgern. Während dieser Zeit lebten die Menschen außerhalb der Stadt in Zelten oder provisorischen Hütten (hebr. Sukka) – daher der Name –, um sich an den Exodus zu erinnern.

​

Einen wichtigen Bestandteil der Feierlichkeiten bildete die Libationszeremonie oder das Trankopfer. Am Morgen des ersten Tages zog eine priesterliche Prozession zum Teich von Schiloach, um mit einem goldenen Behälter Wasser zu schöpfen und es anschließend zum Tempel zu bringen. Diese Prozession war begleitet von Freudenfeiern: Tiere wurden geopfert, und wenn die Priester den Altar erreichten, wurde eine Trompete geblasen. Pilger schwenkten Palmenblätter und rezitierten Psalmen. An jedem der sieben Festtage gossen die Priester dieses Wasser vermischt mit etwas Wein während des Morgengottesdienstes auf den Altar. Am letzten Tag erreichte die Zeremonie ihren Höhepunkt, wenn die Priester den Altar sieben Mal umkreisten, bevor sie das Wasser vergossen.

​

Dieses Ritual drückte die Hoffnung der Menschen aus, Gott möge sie weiterhin mit Regen segnen, weil dieser auch in Zukunft die Voraussetzung für reiche Ernten war. Aber es gab auch eine eher religiöse Bedeutung. Das Ritual erinnerte daran, wie Gott auf wunderbare Weise Wasser für die Menschen in der Wüste bereitgestellt hatte, und wies damit auf die eschatologischen Fluten lebendigen Wassers hin, wie es die Propheten vorhergesehen hatten.

​

Darauf führte er mich zurück, am Ufer des Flusses entlang. Als ich zurückging, siehe, da waren an beiden Ufern des Flusses sehr viele Bäume. Er sagte zu mir: Diese Wasser fließen hinaus in den östlichen Bezirk, sie strömen in die Araba hinab und münden in das Meer. Sobald sie aber in das Meer gelangt sind, werden die Wasser gesund. Wohin der Fluss gelangt, da werden alle Lebewesen, alles, was sich regt, leben können und sehr viele Fische wird es geben. Weil dieses Wasser dort hinkommt, werden sie gesund; wohin der Fluss kommt, dort bleibt alles am Leben. (Ez 47, 6-9)

 

An jenem Tag wird für das Haus David und für die Einwohner Jerusalems eine Quelle entspringen gegen Sünde und Unreinheit. (Zach 13, 1)

​

Dank dieser Hintergrundinformationen können wir die Kraft der Lehre Jesu während der Feierlichkeiten verstehen. 

​

Am letzten Tag des Festes, dem großen Tag, stellte sich Jesus hin und rief: Wer Durst hat, komme zu mir und es trinke, wer an mich glaubt! Wie die Schrift sagt: Aus seinem Inneren werden Ströme von lebendigem Wasser fließen. Damit meinte er den Geist, den alle empfangen sollten, die an ihn glauben; denn der Geist war noch nicht gegeben, weil Jesus noch nicht verherrlicht war. (7, 37-39)

​

Jesus bezog sich mit dieser Aufforderung auch auf Jesajas Prophezeiung über die messianische Zeit:

​

Auf, alle Durstigen, kommt zum Wasser! (Jes 55, 1)

​

Jesus bekräftige damit, die wahre Erfüllung des Laubhüttenfestes und die Quelle dieses messianisch verheißenen Wassers zu sein. In ähnlicher Weise verkündete Jesus während des Festes, das Licht der Welt zu sein.

​

Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, wird nicht in der Finsternis umhergehen, sondern wird das Licht des Lebens haben. (Joh 8, 12)

​

Die Lichtzeremonie war ein weiteres Ritual, das während des Laubhüttenfestes zelebriert wurde. Während des gesamten Festes brannten nachts vier riesige Menora (Leuchter) im sogenannten Vorhof der Frauen. Die Menschen tanzten die ganze Nacht hindurch, hielten Fackeln in den Händen und sangen Lieder. Es hieß, das Licht sei so hell gewesen, dass es die ganze Stadt erleuchtet habe. Diese Zeremonie erinnerte daran, wie Gott die Israeliten durch die Wüste geführt und sie durch die Feuersäule beschützt hatte.

​

 Licht ist ein wichtiges Motiv im ganzen Alten Testament.

​

Der HERR ist mein Licht und mein Heil: Vor wem sollte ich mich fürchten? (Ps 27, 1)

​

 Dein Wort ist meinem Fuß eine Leuchte, ein Licht für meine Pfade. (Ps 119, 105)

​

 Ich mache dich zum Licht der Nationen; / damit mein Heil bis an das Ende der Erde reicht. (Jes 49, 6)

​

​

Diese Hintergrundinformationen helfen uns besser zu verstehen, was Jesus meinte mit seiner Verkündigung, die Quelle des Wassers und das Licht der Welt zu sein. Er ist die wahre Erfüllung des Laubhüttenfestes.

​

​

Zunehmende Opposition und Ablehnung

​

Johannes betont, dass sich die Juden aufgrund dieser Worte und Taten gegen Jesus stellten. Er berichtet, dass Jesus daraufhin das Gebiet von Judäa mied, eben weil die dort lebenden Menschen ihn töten wollten. Er hatte am Sabbat einen Mann geheilt und behauptet, der Sohn des Vaters zu sein, wodurch er sich Gott gleich stellte. Wir erfahren auch, dass seine Brüder ihn aufforderten, zum Laubhüttenfest nach Jerusalem zu pilgern.

​

Da sagten seine Brüder zu ihm: Geh von hier fort und zieh nach Judäa, damit auch deine Jünger die Taten sehen, die du vollbringst! Denn niemand wirkt im Verborgenen, wenn er öffentlich bekannt sein möchte. Wenn du dies tust, offenbare dich der Welt! Auch seine Brüder glaubten nämlich nicht an ihn. Jesus sagte zu ihnen: Meine Zeit ist noch nicht gekommen. (7, 3-6)

​

Meinten sie es aufrichtig? Wir wissen es nicht. Auf der einen Seite wollten sie Jesus anscheinend helfen. Sie sagen, er solle nach Judäa gehen, damit die Menschen seine Zeichen sehen könnten. Aber sie wussten mit Sicherheit auch, dass dies zu seiner Verhaftung führen würde. Da sie laut Johannes nicht an Jesus glaubten, scheint es wahrscheinlicher, dass sie in falscher, scheinheiliger Absicht redeten. Jesus durchschaut sie und entgegnet deshalb, dass seine Zeit noch nicht gekommen sei. Im Johannes-Evangelium bezieht sich die Zeit Jesu immer auf sein Leiden und seinen Tod.

 

Die Ablehnung Jesu ist nun allumfassend. Er wird nicht nur von den Galiläern (vgl. 4, 44) und den Judäern (vgl. 7, 1) abgelehnt, sondern auch von seiner eigenen Familie. Sogar einer der Zwölf wird ihn verraten (vgl. 6, 71). So hatte es Johannes bereits im Prolog formuliert: „Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf."

Obwohl Jesus zunächst erklärt, dass er nicht zum Fest nach Jerusalem gehen werde, zieht er dann doch in der Mitte des Festes hinauf und beginnt, im Tempel zu lehren.

 

In diesem Abschnitt erfahren wir, wie unterschiedlich die Menschen auf ihn reagieren. Seine Taten und Lehren rufen Spaltung hervor. Manche glauben an ihn:

​

Aus der Menge kamen viele Leute zum Glauben an ihn; sie sagten: Wird der Christus, wenn er kommt, mehr Zeichen tun, als dieser getan hat? (7, 31)

​

Einige aus dem Volk sagten, als sie diese Worte hörten: Dieser ist wahrhaftig der Prophet. (7, 40)

​

Andere stellen seine messianische Herkunft in Frage: Soll der Christus aus Galiläa kommen? Einige versuchen sogar, ihn zu verhaften:

​

Da suchten sie ihn festzunehmen; doch keiner legte Hand an ihn, denn seine Stunde war noch nicht gekommen. … Die Pharisäer hörten, was die Leute heimlich über ihn redeten. Da schickten die Hohepriester und die Pharisäer Gerichtsdiener aus, um ihn festnehmen zu lassen. (7, 30.32)

​

Aber am Ende wagt es niemand, ihn zu festzunehmen. Selbst die Gerichtsdiener verhaften ihn nicht, weil sie darauf verweisen, dass niemals jemand so gesprochen habe wie er (vgl. 7, 44). Als Nikodemus Jesus verteidigt, indem er sagt, dass niemand gerichtet werden könne, ohne vorher angehört worden zu sein, beschuldigen ihn die anderen Pharisäer, ein Galiläer zu sein (vgl. 7, 50-52).

​

In Kapitel 8 erfahren wir, wie seine Feinde – die Schriftgelehrten und die Pharisäer – versuchen, ihm eine Falle zu stellen. Sie führen eine Frau zu ihm, die beim Ehebruch ertappt wurde.

​

[Sie] sagten zu ihm: Meister, diese Frau wurde beim Ehebruch auf frischer Tat ertappt. Mose hat uns im Gesetz vorgeschrieben, solche Frauen zu steinigen. Was sagst du? Mit diesen Worten wollten sie ihn auf die Probe stellen, um einen Grund zu haben, ihn anzuklagen. Jesus aber bückte sich und schrieb mit dem Finger auf die Erde. (8, 4-6)

​

Sie hatten erwartet, sie würden ihn damit rankriegen, denn jede mögliche Antwort, hätten sie gegen ihn verwendet. Hätte er geurteilt, sie sollten die Frau dem Gesetz gemäß steinigen, hätten sie ihn bei den Römern verklagen können. Das römische Recht verbot es nämlich den lokalen Bewohnern, die Todesstrafe zu verhängen. Aber wenn er gesagt hätte, dass sie sie frei lassen sollten, hätten sie ihn beschuldigen können, das mosaische Gesetz zu brechen. Jesus durchkreuzt – wie so oft – ihre Pläne: „​Als sie hartnäckig weiterfragten, richtete er sich auf und sagte zu ihnen: Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein auf sie" (8, 7).

​

Dann bückte sich Jesus und schrieb mit dem Finger auf den Boden. Warum tat er das? Und was schrieb er? Johannes sagt uns nichts darüber. Einige Bibelwissenschaftler meinen, er habe die Sünden gerade der Leute aufgeschrieben, die die Frau beschuldigten. Das hätte sie beschämt und zur Buße bewegt. Deshalb ließen sie von der Frau ab. Andere sagen, er habe nur im Staub gemalt, um Zeit zu schinden. Eine dritte Fraktion vertritt der Auffassung, er habe eine Prophezeiung aus dem Alten Testament erfüllt.

​

Judas Sünde ist aufgeschrieben mit eisernem Griffel, / mit diamantenem Stift eingegraben … Du Hoffnung Israels, HERR! / Alle, die dich verlassen, werden zuschanden. Die sich von mir abwenden, / werden in den Staub geschrieben, denn sie haben den HERRN verlassen, / den Quell lebendigen Wassers. (Jer 17, 1.13)

​

​

Das Laubhüttenfest neu gedeutet (Fortsetzung)

​

Wir sahen bereits, wie Jesus verkündete, die wahre Erfüllung des Laubhüttenfestes zu sein. Er lehrte, dass er die Quelle des lebendigen Wassers und das Licht der Welt sei. Seine Taten, von denen wir in Kapitel 9 erfahren, bestätigen diese Lehre. Er heilt einen Mann, der blind geboren wurde.

 

Wir wissen nicht, wann dieses Wunder geschah. Der einzige Hinweis, den wir haben, ist in Vers 1 die einleitende Angabe von Johannes: „Unterwegs“. Dies könnte bedeuten, dass es sich noch am selben Tag oder kurz nach den vorhergehenden Ereignissen, d. h. am letzten Tag des Festes, ereignete. Die nächste Zeitangabe, die wir finden, steht in 10, 22, wo wir Jesus während des Tempelweihfestes (Chanukka) noch einmal im Tempel lehren sehen. Dieses Fest fand etwa drei Monate nach dem Laubhüttenfest statt. Auf jeden Fall geschah dieses Wunder also innerhalb dieser Zeit.

​

Unterwegs sah Jesus also einen Mann, der von Geburt an blind war. Die Apostel fragen ihn, ob er auf Grund seiner eigenen Sünden oder der seiner Eltern so geboren wurde. Die damals weit verbreitete Auffassung war, dass Leiden eine direkte Folge der Sünde sei. Jesus widerlegt diese Auffassung, indem er sagt: „​Weder er noch seine Eltern haben gesündigt, sondern die Werke Gottes sollen an ihm offenbar werden" (10, 3). Dann fährt er fort:

​

Wir müssen, solange es Tag ist, die Werke dessen vollbringen, der mich gesandt hat; es kommt die Nacht, in der niemand mehr wirken kann. Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt. (9,4–5)

​

Durch den erneuten Hinweis von Jesus, dass er das Licht der Welt ist, macht Johannes deutlich, dass dieses Wunder eine Fortsetzung seiner Lehren während des Laubhüttenfestes ist. Wenn das Licht in der Welt scheint, werden einige sehen und zum Glauben kommen, während andere davon geblendet werden. Der Blinde könnte symbolisch für jeden von uns stehen.

​

Jesus heilt den Mann, indem er auf den Boden spuckt, aus Spucke und Staub einen Teig mischt, die Augen des Blinden mit diesem Teig bestreicht und ihn anschließend auffordert, sich im Teich Schiloach zu waschen. Damit verletzte er erneut den Sabbat, wie wir in Vers 14 erfahren. In Kapitel 5 hatten wir gesehen, dass es verboten war, am Sabbat zu heilen, auch wenn keine Arbeit damit verbunden war. Einige jüdische Gelehrte hätten sogar die Herstellung des Teiges und das Bestreichen der Augen als Verletzung des Sabbats angesehen. Diese Wiederholung verdeutlicht, dass die beiden Textstellen thematisch miteinander verbunden sind.

​

Jesus fordert anschließend den Mann auf, sich im Teich Schiloach zu waschen. An dieser Stelle unterbricht Johannes seinen Bericht, um uns zu sagen, dass „Schiloach“ ‚gesandt‘ bedeutet. Warum hätte er das tun sollen, wenn nicht, um uns damit etwas Wichtiges mitzuteilen. Vielleicht wollte Johannes damit deutlich machen, dass dieser Teich für Jesus selbst steht, für den, der vom Vater gesandt wurde (vgl. 20, 21) und gerade verkündet hatte: „Wer Durst hat, komme zu mir und trinke." Andere sehen darin ein Symbol für die Taufe. Auf jeden Fall ging der Mann hin, wusch sich und wurde geheilt.

​

So spektakulär dieses Wunder auch war, das geistige Zeichen ist noch größer. Als der Mann zurückkehrt, wird er dreimal befragt: zuerst von seinen Nachbarn, dann von den Pharisäern und schließlich von Jesus. Anfangs ist er immer noch geistig blind. Ich weiß es nicht" (9, 12), antwortet er auf ihre Fragen nach Jesus. Als die Pharisäer wissen wollen, was er über Jesus denkt, erwidert er: „Er ist ein Prophet“ (9, 17). Schließlich fragt Jesus ihn: „Glaubst du an den Menschensohn?“ (9, 35). Darauf entgegnet er: „Wer ist das, Herr, damit ich an ihn glaube?" (9, 36). Als Jesus ihm entgegnet: „​Du hast ihn bereits gesehen; er, der mit dir redet, ist es" (9, 37), antwortet der Mann: „​Ich glaube, Herr!" und betet ihn an. Der Blinde ist jetzt vollständig in das Licht Christi eingetreten, weil er anfängt zu glauben.

​

Johannes lädt uns ein, dies mit der Blindheit der Pharisäer zu vergleichen. Sie lehnen Jesus weiterhin hartnäckig ab, und ihre geistige Blindheit führt zu einer quasi körperlichen Blindheit, da sie nicht mehr in der Lage sind, das Offensichtliche zu akzeptieren: dass dieser Mann blind geboren wurde, nun aber sehen kann. Dies hatte Johannes bereits im Prolog angedeutet:

​

Das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, kam in die Welt. Er war in der Welt und die Welt ist durch ihn geworden, aber die Welt erkannte ihn nicht. (1, 9-10)

​

Durch dieses Wunder bestätigt Jesus seine Lehre: Er ist das Licht der Welt, das den Blinden Licht schenkt und die Menschen zum wahren Glauben führt. Er ist die Quelle des lebendigen Wassers, das uns heilt. Und er heilt auch weiterhin und schenkt am Sabbat Leben.

​

​

Gottes Hirte neu interpretiert

​

Es spricht einiges dafür, Kapitel 10 für eine Fortsetzung von Kapitel 9 zu halten. Man bedenke, dass die Einteilung in einzelne Kapitel erst im 13. Jh. n. Chr. erfolgte. Zum einen verwendet Johannes zwischen den einzelnen Abschnitten häufig Wendungen, die eine Zeitangabe enthalten:

​

Danach ... (6, 1)

Am nächsten Tag ... (6, 22)

Als aber seine Brüder zum Fest hinaufgegangen waren, ... (7, 10)

​

Und zu Beginn von Kapitel 10 gibt es keine Angabe, die auf den Beginn eines neuen Abschnitts hinwiese.

​

Zum anderen setzt Kapitel 10 die in Kapitel 9 angeführten Themen fort. In 10, 1-5 spricht Jesus in Gleichnisform. In der Lektion ,Die Reden Jesu - Die Gleichnisse' im Markusevangelium hatten wir gesehen, dass diese Redeform in der Bibel üblicherweise verwendet wurde, wenn die verkommene herrschende Oberschicht angeprangert werden sollte. Auch in diesem Fall, als Jesus von Dieben und Räubern spricht, bezieht er sich auf die Pharisäer, die ausgerechnet den Blinden, den er geheilt hatte, aus der örtlichen Synagoge hinausgeworfen haben.

​

Zum dritten nimmt Vers 21 Bezug auf die wundersame Heilung des Blinden. 

​

Andere sagten: Das sind nicht die Aussprüche von jemandem, der einen Dämon hat. Kann ein Dämon den Blinden die Augen öffnen?

​

Die Ereignisse, von denen in Kapitel 9 berichtet wird, bilden daher den unmittelbaren Kontext dieses Kapitels. Um die Argumentationsweise Jesu zu verstehen, muss man die Bilder erfassen, die er verwendet. Das Ausgangsbild ist das eines Schafstalls. Zur Zeit Jesu war es üblich, dass sich mehrere Hirten zusammenschlossen. Sie bauten aus Steinen eine Schafhürde mit nur einem Zugang, in der alle Schafe nachts sicher untergebracht waren. Ein Türhüter kümmerte sich um die Schafe und schützte sie vor Raubtieren und Dieben. Am Morgen ließ er die Hirten in den Pferch, damit sie ihre jeweiligen Schafe sammeln konnten. Sie riefen ihre Schafe, diese erkannten ihre Stimme und folgten ihnen. Anstatt die Schafe vor sich herzutreiben, wie es die Hirten heute normalerweise tun, gingen sie voraus und ihre Schafe folgten ihnen.

​

Wie bei Gleichnissen typisch, verwendet Jesus Bilder aus dem Alltag. Aber das bedeutet nicht, dass das Gelehrte dadurch leicht verständlich war. Im Gegenteil, Johannes sagt uns, dass die Zuhörer ihn nicht verstanden. Aber Jesus erklärt die Bedeutung dieses Gleichnisses nicht so, wie wir es bei den Synoptikern gesehen hatten (vgl. Mk 4, 13-20; Mt 13, 18-23; und Lk 8, 11-15). Stattdessen nimmt er die wichtigsten Bilder – Tür, Hirte und Schafe – und entwickelt sie weiter.

​

Jesus erklärt, dass er selbst die Tür ist, die einem doppelten Zweck dient. Wie P. Raymond Brown sagt: (1) „Er ist das Tor, durch das der Hirte zu den Schafen geht; deshalb sind die einzigen zuverlässigen Hirten diejenigen, die von Jesus eingesetzt wurden. Die Pharisäer sind Diebe, da sie nicht durch Jesus kommen.  [Und (2)] Er ist das Tor, durch das die Schafe in den Pferch hineinkommen und wieder hinaus auf die Weide gehen. Diejenigen, die durch dieses Tor kommen, werden Leben haben (Jesus ist das Wasser des Lebens, das Brot des Lebens und das Tor des Lebens).“ [3]

 

Gleichzeitig beansprucht Jesus nicht nur, ein Hirte unter vielen, sondern der gute Hirte zu sein. Er nennt dafür zwei Gründe: Erstens ist er – im Gegensatz zu den angemieteten Türhütern – bereit, sein Leben für seine Schafe hinzugeben. Und zweitens kennt er seine Schafe, und sie kennen ihn. „Diese innige Kenntnis seiner Herde, die Liebe beinhaltet, ist sein Grund, sein Leben für sie hinzugeben.“ [4]

​

Als Jesus darüber sprach, wird er die zahlreichen Stellen im Alten Testament im Sinn gehabt haben, an denen die schlechten Hirten Israels gescholten werden:

​

Das Wort des HERRN erging an mich: Menschensohn, sprich als Prophet gegen die Hirten Israels, sprich als Prophet und sag zu ihnen, den Hirten: So spricht GOTT, der Herr: Weh den Hirten Israels, die sich selbst geweidet haben! Müssen die Hirten nicht die Schafe weiden? Das Fett verzehrt ihr und mit der Wolle kleidet ihr euch. Das Mastvieh schlachtet ihr, die Schafe aber weidet ihr nicht. Die Schwachen habt ihr nicht gestärkt, das Kranke habt ihr nicht geheilt, das Verletzte habt ihr nicht verbunden, das Vertriebene habt ihr nicht zurückgeholt, das Verlorene habt ihr nicht gesucht; mit Härte habt ihr sie niedergetreten und mit Gewalt. Und weil kein Hirt da war, zerstreuten sie sich und sie wurden zum Fraß für alles Getier des Feldes, als sie zerstreut waren. Meine Schafe irren auf allen Bergen und auf jedem hohen Hügel umher und über die ganze Erdoberfläche sind meine Schafe zerstreut. Doch da ist keiner, der fragt, und da ist keiner, der auf die Suche geht.

So spricht GOTT, der Herr: Siehe, nun gehe ich gegen die Hirten vor und fordere meine Schafe aus ihrer Hand zurück. Ich mache dem Weiden der Schafe ein Ende. Die Hirten sollen nicht länger sich selbst weiden: Ich rette meine Schafe aus ihrem Rachen, sie sollen nicht länger ihr Fraß sein.

Denn so spricht GOTT, der Herr: Siehe, ich selbst bin es, ich will nach meinen Schafen fragen und mich um sie kümmern. Wie ein Hirt sich um seine Herde kümmert an dem Tag, an dem er inmitten seiner Schafe ist, die sich verirrt haben, so werde ich mich um meine Schafe kümmern und ich werde sie retten aus all den Orten, wohin sie sich am Tag des Gewölks und des Wolkendunkels zerstreut haben. Ich werde sie aus den Völkern herausführen, ich werde sie aus den Ländern sammeln und ich werde sie in ihr Land bringen. Ich führe sie in den Bergen Israels auf die Weide, in den Tälern und an allen bewohnten Orten des Landes. Auf guter Weide werde ich sie weiden und auf den hohen Bergen Israels wird ihr Weideplatz sein. Dort werden sie auf gutem Weideplatz lagern, auf den Bergen Israels werden sie auf fetter Weide weiden. Ich, ich selber werde meine Schafe weiden und ich, ich selber werde sie ruhen lassen - Spruch GOTTES, des Herrn. Das Verlorene werde ich suchen, das Vertriebene werde ich zurückbringen, das Verletzte werde ich verbinden, das Kranke werde ich kräftigen. Doch das Fette und Starke werde ich vertilgen. Ich werde es weiden durch Rechtsentscheid. (Ez 34, 1-16)

​

Diese Prophezeiung verheißt, dass Gott selbst sich um seine Schafe kümmern wird. Mit seinem Anspruch, der gute Hirte zu sein, offenbart Jesus daher, dass er der göttliche Hirte ist.

​

Schließlich erklärt Jesus auch, dass er noch weitere Schafe hat, die nicht aus dieser Herde stammen (jüdisches Volk), aber dass er diese anderen Schafe in die Herde aufnehmen wird, sodass sie eine Herde bilden werden. Auf der einen Seite bezieht er sich auf die 10 verlorenen Stämme Israels. Aber wie will er die Schafe der verlorenen Stämme mit den Schafen Judas wieder vereinen? Bedenken Sie, dass diese Stämme, nachdem sie im Jahr 722 v. Chr. ins Exil geschickt worden waren, verschwanden. Sie glichen sich vollständig den heidnischen Kulturen an, die sie aufnahmen. Um die verlorenen Stämme zurückzubringen, wird Jesus daher auch die Heiden in diese Herde holen müssen. Damit bezieht sich Jesus also nicht nur auf die verlorenen Stämme Israels, sondern auch auf alle Heiden.

​

​

Das Tempelweihfest (Chanukka) neu gedeutet

​

Das Tempelweihfest oder Chanukka-Fest in unserem Abschnitt ist die letzte Tradition, der Jesus eine neue Deutung gibt und damit erfüllt. Es wurde etwa drei Monate nach dem Laubhüttenfest gefeiert, beginnend am 25. Tag des Monats Kislev, der auf Ende November oder Anfang Dezember fällt. Das Fest wird so genannt, weil es an die Wiedereinweihung des Tempels erinnert. Antiochus Epiphanes, der König der Seleukiden, hatte ihn entweiht, indem er ein Schwein auf dem Altar opferte und dessen Blut auf die heiligen Schriftrollen goss. Dies war Teil seiner Kampagne, das Judentum zu unterdrücken und alle Juden gewaltsam zum Heidentum zu bekehren. Die Folge war der Makkabäer-Aufstand, wie wir in 1 und 2 Makkabäer lesen. Nach dem Sieg über ihre Unterdrücker weihten die Juden – unter der Führung von Judas Makkabäus – ihren Tempel erneut Gott (vgl. 1 Makk 4, 35-59 und 2 Makk 10, 1-8).

​

Deshalb fragen die Menschen Jesus: Wie lange hältst du uns noch hin? Wenn du der Christus bist, sag es uns offen!" (10, 24). Das ist dieselbe Frage, die ihm der Hohepriester während seines Prozesses stellen wird (vgl. Lk 22, 67; Mk 14, 61; Mt 26, 63). Darauf wird Jesus eine klare Antwort geben, die der Grund für sein Todesurteil sein wird. Doch da seine Zeit noch nicht gekommen ist, antwortet er an dieser Stelle noch ausweichend.

​

Jesus antwortete ihnen: Ich habe es euch gesagt, aber ihr glaubt nicht. Die Werke, die ich im Namen meines Vaters vollbringe, legen Zeugnis für mich ab; ihr aber glaubt nicht, weil ihr nicht zu meinen Schafen gehört. Meine Schafe hören auf meine Stimme; ich kenne sie und sie folgen mir. Ich gebe ihnen ewiges Leben. Sie werden niemals zugrunde gehen und niemand wird sie meiner Hand entreißen. (10, 25-28)

​

Beachten Sie, wie er noch einmal seine Werke als Zeugen anruft. Sie sollten deutlich genug sprechen, damit diejenigen, die guten Willens sind, sie sehen und verstehen. Diejenigen, die nicht glauben, gehören nicht zu seinen Schafen. Jesus wird denen, die an ihn glauben, das ewige Leben geben. Wir sehen hier, wie diese Textstelle thematisch mit der vorherigen über den guten Hirten verbunden ist.

 

Wie wir bereits in den vorangegangenen Kapiteln immer wieder gesehen haben, geht Jesus dann vom Deuten seiner Werke zum Darlegen seiner Beziehung zum Vater über.

​

Mein Vater, der sie mir gab, ist größer als alle und niemand kann sie der Hand meines Vaters entreißen. Ich und der Vater sind eins. (10, 29-30)

​

Es überrascht nicht, dass dies zu einem weiteren Versuch führt, ihn zu töten. Seine Gegner wollen ihn wegen seiner blasphemischen Äußerungen steinigen. Dies ist das dritte Mal im Evangelium, dass sie versuchen, ihn zu töten (vgl. 5, 18 und 8, 59). In allen Fällen war der Grund für die scheinbare Blasphemie Jesu seine Behauptung, Gott gleich oder eins mit ihm zu sein. Er entgegnet denjenigen, die ihn töten wollen:

​

Viele gute Werke habe ich im Auftrag des Vaters vor euren Augen getan. Für welches dieser Werke wollt ihr mich steinigen? Die Juden antworteten ihm: Wir steinigen dich nicht wegen eines guten Werkes, sondern wegen Gotteslästerung; denn du bist nur ein Mensch und machst dich selbst zu Gott. Jesus erwiderte ihnen: Steht nicht geschrieben in eurem Gesetz: Ich habe gesagt: Ihr seid Götter? Wenn er jene Menschen Götter genannt hat, an die das Wort Gottes ergangen ist, und wenn die Schrift nicht aufgehoben werden kann, dürft ihr dann von dem, den der Vater geheiligt und in die Welt gesandt hat, sagen: Du lästerst Gott - weil ich gesagt habe: Ich bin Gottes Sohn? (10, 32-36)

​

Jesus verwendet hier eine typische Form der rabbinischen Argumentation: vom Kleineren zum Größeren. Die Schriftstelle, auf die er sich bezieht, findet sich in den Psalmen.

​

​Ich habe gesagt: Ihr seid Götter, *

ihr alle seid Söhne des Höchsten. (Ps 82, 6)

​

Es ist unklar, von wem dieser Psalm spricht, aber das ist nebensächlich. Der Punkt Jesu ist: Wenn die Heilige Schrift andere Menschen „Götter“ und „Söhne des Allerhöchsten“ nennt, wie können seine Gegner ihm dann vorwerfen, dass er sich selbst „Sohn Gottes“ nennt? Zumal er vom Vater geweiht und in die Welt gesandt wurde.

​

Das ist der Schlüssel für die Bedeutung dieser Textstelle. Wie wir bereits gesehen haben, wurde an Chanukka die Wiederweihung des Tempels gefeiert. Jesus ist jedoch derjenige, der von Gott geweiht und in die Welt gesandt wurde.

​

Jesus unternimmt nun einen letzten Versuch. Er lädt das Volk ein, ihn auf der Grundlage seiner Werke zu beurteilen, weil diese bezeugen, dass der Vater in ihm ist und dass er im Vater ist. Aber dieser Versuch ist der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Anstatt ihm zuzuhören, versuchen sie erneut, ihn zu verhaften. Dieser Teil des Buches der Zeichen endet damit, dass Jesus aus Judäa flieht und auf die andere Seite des Jordan geht, an den Ort, an dem Johannes einst getauft hatte.

​

​

Aufgaben

​

  • Erklären Sie, warum Jesus am Sabbat geheilt hat!

  • Erklären Sie, wie Jesus sich als der neue Mose präsentiert, der uns das neue Manna geben wird!

  • Erklären Sie, wie Jesus das Laubhüttenfest und das Chanukka-Fest neu interpretiert!

  • Erklären Sie das Bild Jesu als Guter Hirte!​​

​

​

Fußnoten

 

[1] Pitre, Brant, JESUS and the Jewish Roots of the Eucharist, Image, New York, S. 84.

[2] Emil Kautzsch, Die Apokryphen und Pseudepigraphen des Alten Testaments, Bd. 2, Darmstadt, S. 422 f.

[3] Brown, Raymond, The Gospel and Epistles of John, The Liturgical Press, Minnesota, 1988, S. 59.

[4] Ibid, S. 59.

bottom of page