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Lektion 4

Jesu frühes Wirken

Painting of Saint John writing his Gospel

Übersicht

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Nachdem wir mit den Hauptpersonen der Geschichte vertraut gemacht wurden, wird im folgenden Abschnitt des Buches der Zeichen die Handlung entwickelt. Jesus beginnt nun sein öffentliches Wirken: In Kana verwandelt er Wasser in Wein, er reinigt den Tempel, er spricht mit Nikodemus, dann mit der Samariterin, und später heilt er den Sohn eines königlichen Beamten. Durch seine Worte und Taten offenbart Jesus nach und nach, dass er gekommen ist, um alles zu erneuern. Nach christlichem Verständnis sind die Realien des Alten Testaments – wie das Gesetz, der Tempel und der Reinigungsritus – nur vorübergehende Realitäten, die auf Jesus vorausdeuten. Jesus erfüllt sie nicht nur, er verwandelt sie auch in etwas Neues, das Teil des Neuen Bundes ist.

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Jesus beginnt auch, über die Bedeutung des Glaubens zu lehren. Der Glaube an ihn wird ein wichtiges Thema sein, nicht nur in diesem Abschnitt, sondern im ganzen Evangelium. Obwohl viele Menschen zum Glauben an ihn kommen, vertraut sich Jesus ihnen nicht an. Dies ist ein weiterer Hinweis an den Leser, dass nicht alles in Ordnung ist: Am Horizont ziehen Gewitterwolken auf.

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Lernziele

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Sie werden diese Lektion erfolgreich abgeschlossen haben, wenn Sie

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  • den Unterschied zwischen den Reinigungsriten des Alten und des Neuen Bundes erklären können;

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  • beschreiben können, wie Jesus den Tempel ersetzt und selbst zum neuen Tempel wird;

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  • erklären können, warum es nicht mehr notwendig ist, ein Nachkomme Abrahams zu sein, um in das Reich Gottes zu gelangen;

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  • erklären können, warum wir dank des Neuen Bundes nicht mehr nach Jerusalem pilgern müssen, um den Vater anzubeten. 

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Einführung

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Wir wenden uns nun dem zweiten Abschnitt des Buches der Zeichen zu (2, 1-4, 54). Darin beschreibt der Evangelist Jesu frühes Wirken. Es beginnt mit der Hochzeit zu Kana und endet bei der Heilung des Sohnes eines königlichen Beamten. Diese beiden Wunder bilden eine Klammer oder fungieren gewissermaßen als Buchstützen: Sie markieren den Beginn und das Ende eines Einschubs, denn beide spielen sich am dritten Tag in Kana ab. In Kapitel 2 erfahren wir ausdrücklich, dass die Hochzeit in Kana am dritten Tag stattfand. Im dritten Kapitel wird darauf hingewiesen, dass sich die Heilung nach zwei Tagen ereignete. Damit wird nach der jüdischen Zählung der Tage der dritte Tag bezeichnet.

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Wichtige Themen

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Glaube an Jesus

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Der Glaube ist ein wichtiges Thema in diesem zweiten Abschnitt. Wir haben bereits festgestellt, dass Jesus ständig davon spricht. So sagt er zu Nikodemus: „Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren geht, sondern ewiges Leben hat" (3, 16). Und wir erfahren, dass viele Menschen zum Glauben an Jesus kamen.

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  • Nach der Tempelreinigung glaubten viele an seinen Namen, nachdem sie die Zeichen gesehen hatten, die Jesus wirkte. (vgl. 2, 23)

  • Die Samariter glaubten an Jesus auf das Zeugnis der Samariterin hin. (vgl. 3, 39-42)

  • Nachdem Jesus einen Jungen geheilt hatte, glaubten sein Vater und dessen ganzer Hausstand an ihn. (vgl. 4, 53-54)

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Aber der Glaube an Jesus ist nicht nur in diesem Abschnitt bedeutsam, er ist im ganzen Evangelium wichtig. Diesen Gedanken hat uns der Evangelist bereits im Prolog nahegebracht: „Allen aber, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden, allen, die an seinen Namen glauben" (1, 12). Und gegen Ende des Evangeliums wird er erklären, dass dies der Grund für die Niederschrift seines Evangeliums war.

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Noch viele andere Zeichen hat Jesus vor den Augen seiner Jünger getan, die in diesem Buch nicht aufgeschrieben sind. Diese aber sind aufgeschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben Leben habt in seinem Namen. (20, 30-31)

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Alles neu machen

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Ein weiteres wichtiges Thema in diesem Abschnitt und im gesamten Evangelium ist die Neuschöpfung. Durch seine Worte und Taten offenbart Jesus nach und nach, dass er gekommen ist, um alles zu erneuern. Nach christlichem Verständnis der Bibel sind die Realitäten im Alten Testament – wie das Gesetz, der Tempel und die Reinigungsriten – vorübergehende Realitäten, die auf Jesus vorausdeuten. Er erfüllt sie nicht nur, sondern verwandelt sie in etwas Neues. Dieser Gedanke wird durch das Buch der Offenbarung bestätigt.

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Dann sah ich einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, auch das Meer ist nicht mehr. Ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott her aus dem Himmel herabkommen; sie war bereit wie eine Braut, die sich für ihren Mann geschmückt hat. Da hörte ich eine laute Stimme vom Thron her rufen: Seht, die Wohnung Gottes unter den Menschen! Er wird in ihrer Mitte wohnen und sie werden sein Volk sein; und er, Gott, wird bei ihnen sein. ... Er, der auf dem Thron saß, sprach: Seht, ich mache alles neu. Und er sagte: Schreib es auf, denn diese Worte sind zuverlässig und wahr! (Off 21, 1-5)

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Dieser Teil des Evangeliums macht bereits deutlich, dass Jesus durch den Neuen Bund etwas Neues schafft.

 

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Der Sturm am Horizont

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Schon während seines frühen Wirkens kamen viele Menschen zu Jesus aufgrund der Zeichen, die er wirkte. Wenn wir jedoch auf die Details achten, sehen wir bereits Gewitterwolken am Horizont aufziehen. Obwohl viele zum Glauben an Jesus kamen, wird uns gesagt, dass er sich ihnen nicht anvertraute (vgl. 2, 24). Und später beschwert er sich: „Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder seht, glaubt ihr nicht(4, 48).

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Die Reinigungsrituale neu interpretiert

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In der vorigen Lektion haben wir gesehen, wie Jesus das Wunder von Kana mit seiner Stunde verbunden hat, das heißt mit seinem Leiden und seinem Tod. Und wir haben die Fülle an Wein, die er zur Verfügung stellte, als Zeichen der Erfüllung der Prophezeiungen über das messianische Zeitalter gedeutet. Es gibt jedoch eine weitere Bedeutungsebene in diesem Wunder. Jesus hätte den Wein auf viele verschiedene Arten zur Verfügung stellen können. So hätte er hinter dem Schuppen im Garten sich Wein aus dem Nichts materialisieren lassen und dann dem Hofmeister sagen können, er solle dort nachsehen. Oder er hätte einen Weinhändler zufällig gerade noch rechtzeitig durch die Stadt ziehen lassen können. Wenn wir dieses Zeichen jedoch typologisch deuten, entdecken wir, dass es an die erste Plage in Ägypten erinnert, als Gott Wasser in Blut verwandelte. So wie dieses Wunder den Beginn des Exodus markierte, so leitet auch das Wunder Jesu seine Stunde ein.

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Darüberhinaus verwandelte Jesus auch nicht irgendein Wasser in Wein; er wandelte das in Steinkrügen befindliche Wasser. So lesen wir im Buch Exodus, dass Gott bei der zweiten Plage nicht nur das Wasser des Nils verwandelte, sondern auch das Wasser, das in Steinkrügen aufbewahrt wurde (vgl. Ex 7, 19). Diese Wiederholung deutet darauf hin, dass diese beiden Ereignisse zusammenhängen.

 

Aber dieses Zeichen weist nicht nur zurück auf den Exodus, es weist auch voraus auf das Letzte Abendmahl, wo Jesus Wein in sein Blut verwandeln wird. Diese typologische Verbindung wird durch die Tatsache unterstrichen, dass alle drei Wunder um die Zeit des Paschafestes stattfinden. 

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Johannes gibt uns einen weiteren Hinweis, wenn er sagt, dass die Steinkrüge nicht irgendwelche Steingefäße waren. Es waren die Steinkrüge, die von den Juden für ihre Reinigungsrituale verwendet wurden (vgl. 2, 6). Dies ist wichtig, weil die Reinigungsriten ein wesentlicher Bestandteil des Alten Bundes waren.

 

Das Alte Testament listet viele Situationen auf, in denen eine Person rituell unrein wurde: körperlicher Ausfluss, Geburt eines Kindes, Hautkrankheit, Verzehr bestimmter Nahrungsmittel usw. Es ist aber wichtig zu beachten, dass rituelle Unreinheit diese Person nicht zu einem Sünder machte. Rituelle und ethisch-moralische Unreinheit sind zwei sehr unterschiedliche, wenn auch miteinander verbundene Realitäten. Die äußere Befleckung, die im Alten Testament beschrieben wird, war nur ein Zeichen für die innere Befleckung, die durch die Sünde verursacht wurde. Aber es hatte Konsequenzen, wenn man unrein war. Zum Beispiel konnten die Unreinen den Tempel nicht betreten und nicht an den Opferritualen teilnehmen. Denn was oder wen auch immer sie berührten, wurde ebenfalls unrein.

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Die Heilige Schrift beschreibt verschiedene Riten, durch die eine Person wieder rein werden konnte. Die Einzelheiten unterscheiden sich je nach Art und Schwere der Unreinheit, aber alle Rituale haben das Waschen mit Wasser gemeinsam. Dieses Waschen diente als sichtbares Zeichen dafür, dass die Person von ihrer Befleckung gereinigt worden war. Das Berühren einer Leiche hatte die schwerste Form der Unreinheit zur Folge. Um wieder rein zu werden, musste die Person Folgendes tun:

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Wer einen toten Menschen berührt, ist sieben Tage lang unrein. Am dritten Tag und am siebten Tag entsündigt er sich mit dem Reinigungswasser, dann wird er rein. Wenn er sich am dritten Tag und am siebten Tag nicht entsündigt, dann wird er nicht rein. (Num 19, 11-12)

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Das heißt, die Person musste sich am dritten und siebten Tag waschen. Nun teilt uns Johannes mit, dass die Hochzeit in Kana am dritten Tag stattfand, der zugleich der siebte Tag war. Er erwähnt auch, dass das durch das Wunder verwandelte Wasser jenes Wasser war, das in den Steinkrügen für die Reinigungsrituale aufbewahrt wurde. Sind all diese Details nur zufällig, ohne eine tiefere Bedeutung? Ich glaube nicht.

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Marias Aussage „Sie haben keinen Wein mehr“ kann auf geistiger Ebene als Kommentar des Johannes zur Unfruchtbarkeit der Reinheitsrituale des Alten Bundes gedeutet werden. Letztere konnten die Menschen nur von der rituellen Unreinheit reinigen, aber nicht von der ethisch-moralischen, die durch die Sünde verursacht wurde. Deshalb hat Jesus sie durch die Riten des Neuen Bundes ersetzt: durch die Sakramente.

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Die Aufforderung Jesu an die Diener, die Krüge bis zum Rand füllen, könnte darauf hinweisen, dass er gekommen ist, um die alttestamentlichen Vorschriften zu erfüllen. In seinem Neuen Bund sind die Taufe, die er bringen wird, und der Wein, den er zur Verfügung stellen wird – der beste Wein übrigens, weil es sein Blut ist – nicht nur Äußerlichkeiten. Sie haben wirklich die Macht, unsere Sünden wegzuwaschen und uns innerlich zu verwandeln.

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Das oben Beschriebene ist ein gutes Beispiel für die verschiedenen Bedeutungsebenen, die sich im Text des Johannes-Evangeliums finden, worauf wir bereits in der Einleitung hingewiesen hatten. Wir haben zunächst die wörtliche Bedeutung. Aber als die gläubige christliche Gemeinschaft in der Liturgie von diesen Ereignissen hörte und darüber nachdachte, entdeckte sie eine tiefere Bedeutung.

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Der Tempel neu interpretiert

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Jesus ersetzte nicht nur die Riten des Alten Bundes, er ersetzte auch den Tempel durch einen neuen Tempel – nämlich seinen Leib. Das ist der geistige Sinn dieser Textstelle. Aber schauen wir uns zunächst einige Hintergrundinformationen an, um den wörtlichen Sinn des Textes zu verstehen.

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Einige Tage nach der Hochzeit zu Kana machte sich Jesus auf den Weg nach Jerusalem, um das Paschafest zu feiern. Dies wurde am 14. Tag des Mondmonats begangen, an dem Tag, an dem der erste Frühlingsvollmond aufgeht, was irgendwann zwischen Ende März und Anfang April liegt. Das Fest erinnert an jene Nacht, in der der Todesengel alle Erstgeborenen der Ägypter tötete, aber an den Häusern der Israeliten ‚vorüberging‘, wenn sie Blut an ihre Türpfosten gestrichen hatten – daher der Name „Vorübergang (Pascha)“.  Diese Plage führte dazu, dass der Pharao die Israeliten ziehen ließ, und war somit der Beginn des Exodus aus Ägypten.

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Das Gesetz des Mose legte fest, dass alle männlichen Israeliten, die dazu in der Lage waren, zu diesem Fest nach Jerusalem gehen mussten, um dort ein Opfer darzubringen.

Model of the Jerusalem temple

(Bild auf Pixabay)

Als Jesus den Tempelbezirk betrat und die Händler sah, die dort die Tiere für das vorgeschriebene Opfer verkauften, und die Geldwechsler an ihren Ständen, machte er sich eine Geißel aus Stricken und trieb sie hinaus. Wir haben keinen Beweis dafür, dass die Händler korrupt waren, also war dies wahrscheinlich nicht der Grund für seinen Zornesausbruch.

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Die Händler und Geldwechsler boten eine wichtige Dienstleistung an. Die Menschen kamen zu den Festtagen aus dem ganzen Römischen Reich und hatten Münzen in verschiedenen Währungen bei sich, die sie wechseln mussten, um die Tempelsteuer zu bezahlen. Außerdem war es viel einfacher, ein Tier für das Opfer vor Ort in Jerusalem zu kaufen, als es über weite Strecken mitzubringen.

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Jesu Zornesausbruch bezog sich auf all diese Aktivitäten innerhalb des Tempelbezirks, wahrscheinlich im Hof der Heiden, im äußeren Vorhof, der das Tempelgebäude umgab. Salomo hatte diesen Hof für die Heiden bauen lassen, damit auch sie Gott anbeten konnten.

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Auch Fremde, die nicht zu deinem Volk Israel gehören, werden wegen deines Namens aus fernen Ländern kommen; denn sie werden von deinem großen Namen, deiner starken Hand und deinem hoch erhobenen Arm hören. Sie werden kommen und in diesem Haus beten. Höre sie dann im Himmel, dem Ort, wo du wohnst, und tu alles, weswegen der Fremde zu dir ruft! Dann werden alle Völker der Erde deinen Namen erkennen. Sie werden dich fürchten, wie dein Volk Israel dich fürchtet, und erfahren, dass dein Name ausgerufen ist über diesem Haus, das ich gebaut habe. (1 Kön 8, 41-43)

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In früheren Zeiten hatten die Händler ihre Stände im Kidrontal an den Hängen des Ölbergs aufgebaut. Aber zur Zeit Jesu handelten sie im Tempelbezirk selbst, und das hinderte die Heiden daran, zu Gott zu beten. Dies erzürnte Jesus, also vertrieb er die Händler. Er rechtfertigte sein Handeln mit einem Zitat aus der Schrift: „... macht das Haus meines Vaters nicht zu einer Markthalle!" (2, 16).

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Mit der Tempelreinigung ging es Jesus nicht nur um die falsche Nutzung des religiösen Bezirks; er griff damit den Tempel selbst an und verkündete, dass er durch einen anderen Tempel ersetzt werden würde. Als die Behörden ihn um ein Zeichen baten, antwortete er: „Reißt diesen Tempel nieder und in drei Tagen werde ich ihn wieder aufrichten" (2, 19). Sie dachten, er beziehe sich auf das bestehende Tempelgebäude, aber er sprach von einem neuen Tempel – dem Tempel seines Leibes.

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Im Alten Testament war der Tempel der Ort, an dem Gott auf Erden wohnte. Gott nahm Wohnung im Tempel, nachdem Salomo ihn geweiht hatte.

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Als Salomo sein Gebet beendet hatte, fiel Feuer vom Himmel und verzehrte das Brandopfer und die Schlachtopfer. Die Herrlichkeit des HERRN erfüllte den Tempel. (2 Chr 7, 1)

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Die Sünde des Volkes jedoch brachte Gott dazu, den Tempel zerstören zu lassen, zuerst durch die Babylonier im Jahr 587 v. Chr., später durch die Römer im Jahr 70 n. Chr. Trotz seiner Schönheit und Pracht wurde dieser Tempel nicht mehr benötigt. Im Neuen Bund ersetzt Jesus ihn durch seinen eigenen Leib, weil Gott in ihm in ganzer Fülle wohnt.

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Johannes stellt diese Szene an den Anfang des Wirkens Jesu, während die synoptischen Evangelien sie an das Ende setzen. Die Exegeten sind sich nicht einig, wie diese Diskrepanz zu interpretieren ist. Einige behaupten, dass Johannes‘ Chronologie genauer sei, andere, dass die Synoptiker zuverlässiger seien. Eine dritte Gruppe geht davon aus, dass es zwei Tempelreinigungen gab. Es gibt leider nicht genügend Anhaltspunkte, um eine dieser Interpretationen zu beweisen oder zu widerlegen.

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Das Volk Gottes neu interpretiert

 

Wir erfahren aus dem weiteren Text, dass viele Juden durch die Tempelreinigung zum Glauben an Jesus kamen wegen der Zeichen, die er wirkte, aber dass Jesus sich ihnen nicht anvertraute, weil er die Herzen der Menschen kannte. Auch Nikodemus geht zu Jesus und sagt zu ihm:

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Rabbi, wir wissen, du bist ein Lehrer, von Gott gekommen; denn niemand kann die Zeichen tun, die du tust, wenn nicht Gott mit ihm ist. (3, 2)

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Wir können schwer beurteilen, wie aufrichtig Nikodemus war. Er kommt mitten in der Nacht, was darauf hindeutet, dass er von anderen nicht gesehen werden wollte. Aber dieses Detail könnte auch eine tiefere Bedeutung haben, denn im Johannes-Evangelium wird die Dunkelheit häufig mit Bösem und Unwissenheit in Verbindung gebracht. Nikodemus sagt „wir wissen“, aber es ist unklar, ob er mit dem Pluralis Majestatis (= Plural der Majestät) sich selbst meint, oder ob er im Namen anderer spricht. Wie die Jünger redet er Jesus mit dem Titel Rabbi/Lehrer an, was ein gewisses Maß an Respekt nahelegt; aber im Gegensatz zu den Jüngern geht sein Glaube nicht tiefer; zumindest noch nicht in diesem Augenblick. Nikodemus wird jedoch später bei der Grablege Jesu helfen.

 

Es ist ebenfalls schwer für uns zu beurteilen, wie Jesus zu Nikodemus stand. Er ignoriert dessen Begrüßung und konfrontiert Nikodemus schroff mit der Notwendigkeit einer geistigen Wiedergeburt. Dann tadelt er ihn wegen seines Unverständnisses, obwohl er doch ein Lehrer sei. Meint Jesus das sarkastisch? Und schließlich lässt Johannes Nikodemus sang- und klanglos von der Bildfläche verschwinden, indem vom Dialog abrupt in einen Monolog wechselt.

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Während ihres Gesprächs bringt Jesus eine weitere Säule des Alten Bundes zum Einsturz: die Auffassung vom Volk Gottes. Die Israeliten glaubten, dass sie als natürliche Nachkommen Abrahams das auserwählte Volk Gottes seien. Dieser Gedanke leitet sich aus den Bünden ab, die Gott mit Abraham und Mose geschlossen hatte. Als Gott Abraham berief, versprach er, ihn zu einer großen Nation zu machen. (vgl. Gen 12, 2)

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Ich nehme euch mir zum Volk und werde euch Gott sein. Und ihr sollt wissen, dass ich der HERR bin, euer Gott, der euch aus dem Frondienst Ägyptens herausführt. (Ex 6, 7)

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Dann erneuerte er diese Verheißung auch Mose gegenüber:

 

Jetzt aber, wenn ihr auf meine Stimme hört und meinen Bund haltet, werdet ihr unter allen Völkern mein besonderes Eigentum sein. Mir gehört die ganze Erde, ihr aber sollt mir als ein Königreich von Priestern und als ein heiliges Volk gehören. (Ex 19, 5-6)

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Dieser Gedanke findet sich im ganzen Alten Testament. Einige Textstellen nennen die Israeliten ,das Volk Gottes', und es gibt zahlreiche Hinweise auf ähnliche Ausdrücke wie ,das Volk des Herrn' oder ,das Volk des Herrn, deines Gottes'. Als Jude glaubte Nikodemus, dass er zum Volk Gottes gehöre und dass es sein Geburtsrecht sei, schließlich das Reich Gottes zu sehen. Er muss ihn also sehr überrascht haben, dass Jesus zu ihm sagte:

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Amen, amen, ich sage dir: Wenn jemand nicht von oben geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen. (3, 3)

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Das griechische Wort ánothen, das hier mit ,neu' übersetzt wird, kann sowohl ,von oben' als auch ,wieder' bedeuten. Nikodemus verstand Jesus auf der natürlichen Ebene, in dem Sinne, dass man wiedergeboren werden müsse. Deshalb fragt er zurück, wie das möglich sei. Die Antwort Jesu macht deutlich, dass er es im übernatürlichen Sinne gemeint hatte, was bedeutet, dass man von oben geboren werden müsse.

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Amen, amen, ich sage dir: Wenn jemand nicht aus dem Wasser und dem Geist geboren wird, kann er nicht in das Reich Gottes kommen. Was aus dem Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; was aber aus dem Geist geboren ist, das ist Geist. (3, 5-6)

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Dies ist ein gutes Beispiel für die mehrdeutige Sprache, die Johannes Jesus in den Mund legt, die zwar häufig zu Missverständnissen führt, aber es dadurch Jesus ermöglicht, auf eine tiefere Bedeutungsebene zu kommen. In diesem Fall tadelt Jesus Nikodemus dafür, dass er diese geistige Wahrheit nicht versteht, obwohl er ein Lehrer ist. An diesem Punkt verschwindet Nikodemus von der Bildfläche, und der Dialog geht über in einen Monolog. Jesus führt aus:

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Und wie Mose die Schlange in der Wüste erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, damit jeder, der glaubt, in ihm ewiges Leben hat. Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren geht, sondern ewiges Leben hat. Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, damit er die Welt richtet, sondern damit die Welt durch ihn gerettet wird.  (3, 14-17)

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Das bedeutet, im Neuen Bund werden alle diejenigen, die an den Menschensohn glauben und sich nicht nur als Nachkommen Abrahams bezeichnen, gerettet und Teil des Volkes Gottes werden. Jesus bezieht sich in diesem Teil auf die bronzene Schlange, von der in Numeri 21 berichtet wird. So wie die Menschen vor dem physischen Tod gerettet wurden, als sie zur Schlange aufschauten, so werden auch diejenigen, die sich Jesus zuwenden, vor dem geistigen Tod gerettet werden.

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Die Art der Anbetung Gottes neu interpretiert

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In Kapitel 3 debattiert Jesus mit Nikodemus, der nicht nur Jude, sondern auch Pharisäer war. In Kapitel 4 erfahren wir, dass Jesus mit einer Samariterin spricht, die eine Sünderin und Ausgestoßene war. Dieser Gegensatz ist wichtig. Er unterstreicht Jesu Aussage Nikodemus gegenüber, dass nämlich das Reich Gottes jetzt allen offen steht, die an ihn glauben.

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Samaria ist der biblische Name für die zentrale Region Israels, die zwischen Judäa im Süden und Galiläa im Norden liegt. Johannes berichtet, dass Jesus auf seinem Weg von Judäa nach Galiläa durch Samaria gehen „​musste". Das ist so nicht ganz richtig; man konnte zwar auf diesem Weg reisen. Aber wegen der Feindseligkeiten zwischen Juden und Samaritern mieden die meisten Juden die Region Samaria. Stattdessen überquerten sie den Jordan und reisten auf der anderen Seite des Flusses im Jordantal weiter. Johannes wollte damit wohl ausdrücken, dass Jesu Entscheidung theologisch und nicht geografisch begründet war. Er „​musste" durch Samaria gehen, weil er diese Frau treffen wollte.

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Müde und durstig – Johannes scheut sich nicht, uns die menschliche Schwäche Jesu zu zeigen – ruht sich Jesus am Jakobs-Brunnen aus, als eine Frau auftaucht. Als er sie um einen Schluck Wasser bittet, entgegnet sie unhöflich: „​Wie kannst du als Jude mich, eine Samariterin, um etwas zu trinken bitten?" (4, 9). Johannes macht dadurch deutlich, dass die Juden nichts mit den Samaritern zu tun haben wollten. Das ist eine ziemliche Untertreibung, denn ihre Beziehung war eigentlich sehr feindselig. Um zu verstehen, warum, müssen wir wissen, wer die Samariter waren.

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Nach 2 Könige 17 schickten die Assyrer, als sie 822 v. Chr. das nördliche Königreich Israel eroberten, die zehn nördlichen Stämme ins Exil, die sich in ihrem ganzen Reich zerstreuten. Dann siedelten die Assyrer Volksscharen aus fünf anderen Nationen in dem entvölkerten Land an. Da diese Heiden waren, die Gott nicht kannten und nicht fürchteten, bestrafte Gott sie, indem er Löwen sandte, die jene töten sollten. Das Volk beschwerte sich daraufhin beim König von Assyrien, und er schickte einen israelitischen Priester zu ihnen, der sie die Wege des Herrn lehren sollte.

 

Die samaritanische Religion ist daher eine Mischung aus jüdischen und heidnischen Praktiken und Überzeugungen. Die Samariter akzeptieren die ersten fünf Bücher der Bibel, aber nicht die anderen Bücher. Dies lag wahrscheinlich daran, dass diese späteren Bücher die Bedeutung des Jerusalemer Tempels betonen. Aber den Samaritern war es nicht erlaubt, dort zu beten, weil sie keine Juden waren. Stattdessen bauten sie einen eigenen Tempel auf dem Berg Garizim. Dies war für die Juden so anstößig, dass sie ihn etwa 100 Jahre v. Chr. zerstörten. Die Samariter rächten sich, indem sie sich eines Nachts in den Jerusalemer Tempel schlichen und diesen mit menschlichen Knochen entweihten.

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Dieser historische Hintergrund erklärt die feindselige Haltung zwischen Juden und Samaritern zur Zeit Jesu. Darüber hinaus war die Frau auch überrascht, dass Jesus mit ihr sprach, weil Männer damals nicht mit Frauen an öffentlichen Orten sprachen.

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Jesus ignoriert ihre Zurückweisung und entgegnet, dass er ihr lebendiges Wasser geben könnte, wenn sie ihn darum bäte. Dies ist ein weiteres Wortspiel von Johannes, das zu Missverständnissen führt. Die Frau glaubt, Jesus meine damit frisches, fließendes Wasser, wie das Wasser aus einem Bach. Jesus meint jedoch übernatürliches Wasser – das heißt, Gottes Gnade – wie es im Alten Testament beschrieben wird.

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Denn mein Volk hat doppeltes Unrecht verübt: Mich hat es verlassen, den Quell des lebendigen Wassers, um sich Zisternen zu graben, Zisternen mit Rissen, die das Wasser nicht halten. (Jer 2, 13)

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An jenem Tag wird es sein, da wird aus Jerusalem lebendiges Wasser fließen, eine Hälfte zum Meer im Osten und eine Hälfte zum Meer im Westen; im Sommer und im Winter wird es so sein. (Sich 14, 8)

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Wegen dieses Missverständnisses fragt sie ihn, wie er ihr Wasser geben könne, da er nicht einmal ein Gefäß habe. Aber Jesus stellt klar, dass er von übernatürlichem Wasser spricht, das zu einer sprudelnden Quelle wird, deren Wasser ins ewige Leben fließen, so dass sie nie wieder dürsten muss. Immer noch in der Meinung, er spreche von normalem Wasser, sagt sie: Herr, gib mir dieses Wasser, damit ich keinen Durst mehr habe und nicht mehr hierherkommen muss, um Wasser zu schöpfen!" (4, 15).

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Jesus fordert sie daraufhin auf, ihren Mann herbeizurufen. Wir werden diesen Teil des Gesprächs in einer späteren Lektion über Jesus als Bräutigam genauer betrachten. Für den Moment ist es nur wichtig zu erkennen, wie der anschließende Dialog die Frau in ihrem Glauben wachsen läßt – im Unterschied zu Nikodemus. Zunächst weist sie Jesus zurück, dann nennt sie ihn Herr, dann Prophet und schließlich Messias. Während dieses Gesprächs fragt sie Jesus auch, welches der richtige Ort sei, um Gott anzubeten.

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Unsere Väter haben auf diesem Berg Gott angebetet; ihr aber sagt, in Jerusalem sei die Stätte, wo man anbeten muss. (4, 20)

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Jesus antwortet ihr:

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Glaube mir, Frau, die Stunde kommt, zu der ihr weder auf diesem Berg noch in Jerusalem den Vater anbeten werdet. Ihr betet an, was ihr nicht kennt, wir beten an, was wir kennen; denn das Heil kommt von den Juden. Aber die Stunde kommt und sie ist schon da, zu der die wahren Beter den Vater anbeten werden im Geist und in der Wahrheit; denn so will der Vater angebetet werden. Gott ist Geist und alle, die ihn anbeten, müssen im Geist und in der Wahrheit anbeten. (4, 21-24)

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Damit kündigte er eine weitere Neuheit in Bezug auf den Neuen Bund an. Der Alte Bund galt nur den Juden, und Jerusalem war der einzige Ort, an dem sie Gott ihre Opfer darbringen konnten. Jetzt, mit Jesus, ist der Neue Bund nicht nur für alle offen, sondern die Menschen müssen auch nicht mehr nach Jerusalem pilgern. Jetzt können sie Gott überall anbeten, weil sie ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten.

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Aufgaben

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  • Erklären Sie den Unterschied zwischen den Reinigungsriten des Alten und des Neuen Bundes!

  • Beschreiben Sie, wie Jesus den Tempel in Jerusalem ersetzt und selbst zum neuen Tempel wird!

  • Erklären Sie, warum es nicht mehr notwendig ist, ein Nachkomme Abrahams zu sein, um in das Reich Gottes zu gelangen!

  • Erklären Sie, warum wir dank des Neuen Bundes nicht mehr nach Jerusalem pilgern müssen, um den Vater anzubeten! 

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