Lektion 1
Hintergrundinformationen

Übersicht
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Die Kirche lehrt, dass wir, um die Heilige Schrift richtig auszulegen, lernen müssen, „auf das zu achten, was die menschlichen Autoren wirklich sagen wollten“ (KKK 109). In diesem Kurs wird es also darum gehen zu verstehen, was uns der Verfasser des vierten Evangeliums mitteilen wollte. Dazu werden wir die literarischen Stilmittel untersuchen, mit denen er seine Botschaft kommunizierte, wie Handlung, Motiv und Kontext. Aber wer war der Verfasser des vierten Evangeliums? Nach traditioneller Auffassung war es der Apostel Johannes; und es gibt viele inner- und außerbiblische Belege, die diese Ansicht unterstützen.
Jeder, der die vier Evangelien liest, wird schnell feststellen, dass sich das Johannes-Evangelium von den anderen drei Evangelien unterscheidet. Sie ähneln sich insofern, als sie alle das Leben und die Mission Jesu von Nazareth beschreiben, aber es scheint, als ob Johannes einer anderen Vorlage folgte.
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Lernziele
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Sie werden diese Lerneinheit erfolgreich abgeschlossen haben, wenn Sie
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ābegründen können, warum nach traditioneller Auffassung der Apostel Johannes der Verfasser des vierten Evangeliums ist;
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die Grundstruktur des Johannes-Evangeliums beschreiben können;
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erklären können, wie der Verfasser mit Hilfe von Stilmitteln wie Missverständnissen, Ironie, doppelter Bedeutung und Monologen seine Botschaft vermittelt.
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Einführung
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Willkommen zu diesem Kurs über das Evangelium nach Johannes. Obwohl Sie ihn als eigenständigen Kurs durcharbeiten können, ist es doch sinnvoller, der festgelegten Reihenfolge der Kurse zu folgen, da sie aufeinander aufbauen. Das vierte Evangelium ist so tiefgründig, dass es auf vielerlei Art gelesen und interpretiert werden kann. Die unterschiedlichen Betrachtungsweisen sind legitim und ergänzen sich gegenseitig. Aber da wir keine Zeit haben, alles zu untersuchen, werden wir unsere Aufmerksamkeit auf die Punkte richten, die uns am meisten interessieren.
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Da dieser Kurs Teil der Einheit ‚Das Leben Christi’ ist, werden wir uns folglich ansehen, was das Evangelium über die Person Jesu Christi lehrt. Es gibt weitere wichtige Themen - wie die Lehren über Maria und die Sakramente, die wir aber zunächst zurückstellen, um sie später in eigenen Kursen zu behandeln.
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Wir werden ebenso vorgehen wie in den bisherigen Lektionen dieser Einheit. Im Kurs ,Wie man die Bibel lesen sollte’, sahen wir, dass die 73 Bücher der Bibel zusammengenommen eine fortlaufende Geschichte bilden – die Geschichte der Erlösung oder Heilsgeschichte. Aus diesem Grund sollten wir die Bibel so lesen, wie wir einen Roman lesen, das heißt, vom Anfang bis zum Ende.
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Als Christen glauben wir, dass die Bibel das inspirierte Wort Gottes ist. Aber es ist auch ein menschliches Buch, das von menschlichen Autoren verfasst wurde. Die Kirche lehrt uns, dass alles, „was die inspirierten Verfasser oder Hagiographen aussagen, als vom Heiligen Geist ausgesagt gelten muß“ (KKK 107). Um die Heilige Schrift richtig auszulegen, müssen wir daher „auf das ... achten, was die menschlichen Verfasser wirklich sagen wollten“ (KKK 109). Das Ziel dieses Kurses besteht darin zu verstehen, was der Autor des vierten Evangeliums mitteilen wollte.
Johannes legt seinem Evangelium einen typischen Aufbau zugrunde. Wie wir im Kurs ,Wie man die Bibel lesen sollte’ gesehen haben, besteht der Handlungsablauf aus einer Abfolge von Ereignissen, die zusammen eine Geschichte bilden. Nach der Einführung, die uns die Hauptfiguren und den Schauplatz der Handlung vorstellt, taucht ein Konflikt oder ein Problem auf, das gelöst werden muss. Im Laufe der Geschichte verdichten sich die Ereignisse und erzeugen dadurch Interesse und Spannung. Dies wird als ‚ansteigende Handlung’ bezeichnet. Der Höhepunkt der Spannung ist zugleich der Höhepunkt der Geschichte. Die Hauptfigur stellt sich ihrem Gegner, ihrer Angst, einer Herausforderung oder was auch immer die Ursache des Konflikts war, und sucht nach einer Lösung. Dieser Prozess der Auflösung wird als ‚fallende Handlung’ bezeichnet. Der Handlungsablauf verlangsamt sich, während sich die Geschichte ihrem Ende nähert, und alle Fäden werden zusammengeführt.
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In diesem Kurs wollen wir ein besonderes Augenmerk darauf legen, wie der Verfasser die Handlungsabfolge gestaltet hat, um seine Botschaft zu kommunizieren. Wir werden uns auch ansehen, welche literarischen Mittel er eingesetzt hat, wie z. B. Motive. Wichtige Motive, die im ganzen Evangelium vorkommen, sind ,Zeichen’, ,Herrlichkeit’, „Ich-bin"-Worte, ,Vater und Sohn’, und ,die Stunde Jesu’. Ein Motiv ist ein wiederkehrendes Bild, eine Idee oder ein Symbol, das die zentralen Themen und die tiefere Bedeutung einer Geschichte entwickelt oder erklärt. Es bietet Hinweise, die dem Leser helfen, die Botschaft des Autors zu verstehen. Dies geschieht jedoch auf indirekte Weise. Dadurch wird der Leser genötigt, innezuhalten und Fragen zu stellen. Auf diese Weise können Autoren ihre Ideen treffender und tiefer vermitteln. Da Motive in einer Geschichte immer wiederkehren, sind sie leicht zu identifizieren.
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Um eine Bibelstelle richtig zu verstehen, ist es wichtig, auf den Kontext zu achten, da dies die Bedeutung der Worte beeinflussen kann – wie an dem folgenden Beispiel zu sehen ist:
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Tod durch natürliche Ursache
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„... der Lohn der Sünde ist der Tod ...“ (Röm 6, 23)
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Tod durch Schokolade
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Das gleiche Wort ,Tod’ hat je nach Kontext sehr unterschiedliche Bedeutungen. Wenn wir also das Johannes-Evangelium studieren, müssen wir auf den unmittelbaren Textkontext achten.
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Schließlich sollten wir auch auf den historisch-kulturellen Kontext des Evangeliums achten. Eine Gefahr, die es beim Lesen der Bibel zu vermeiden gilt, besteht darin, sie durch unsere eigene kulturelle Brille zu interpretieren. Zwar ist es unmöglich, die Schrift in einem Vakuum zu lesen und vollständig von unserem kulturellen Hintergrund abzusehen, doch sollten wir uns bemühen, die Bibel in ihrem eigenen historischen und kulturellen Kontext zu lesen und zu verstehen. Die Bibel fiel nicht – unberührt von Menschenhand – vom Himmel. Wie jedes Buch wurde sie von realen Menschen geschrieben, die an realen Orten lebten und ein reales Leben führten. Das heißt, sie hatten ihrerseits ihren eigenen spezifischen historischen und kulturellen Hintergrund. Kein geschriebener Text, sei es die Bibel, ein Gedicht oder ein Roman, kann außerhalb seines historischen und kulturellen Kontextes vollständig gewürdigt oder verstanden werden. Dasselbe gilt für die Evangelien.
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Wir werden untersuchen, wie Johannes verschiedene literarische Mittel einsetzt, um uns seine Geschichte von Jesus zu erzählen. Er will uns zeigen, wer Jesus ist, und dass er kam, um Neues zu verkünden. Das heißt, Jesus erfüllte die Gegebenheiten des Alten Testaments und gab ihnen gleichzeitig eine neue Bedeutung wie dem Gesetz, dem Tempel und den religiösen Festen. Je mehr Sie also über diese Gegebenheiten wissen, desto besser werden Sie das Evangelium verstehen.
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Wer schrieb das vierte Evangelium?
Das vierte Evangelium wird ‚Evangelium nach Johannes’ genannt. Dies deutet darauf hin, dass es von einer Person mit Namen Johannes geschrieben wurde. Aber wer war dieser Johannes? Die Frage wirft das schwierige Problem auf, die Autoren antiker Texte zu bestimmen. Wie können wir den Verfasser des Evangeliums identifizieren? Manchmal nennen die Autoren ihren Namen, wie Paulus in seinem ersten Brief an die Korinther:
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Den Gruß schreibe ich, Paulus, eigenhändig. Wer den Herrn nicht liebt, sei verflucht! Marána thá - Unser Herr, komm! Die Gnade Jesu, des Herrn, sei mit euch! Meine Liebe sei mit euch allen in Christus Jesus. Amen. (1 Kor 16, 21-24)
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Aber der Autor des vierten Evangeliums nennt seinen Namen nicht. Doch obwohl er sich nicht vorstellt, bezieht er sich doch an mehreren Stellen auf sich selbst, so z. B. in Joh 1, 14:
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Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt und wir haben seine Herrlichkeit geschaut, die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater, voll Gnade und Wahrheit.
Wer ist das „wir“, das hier erwähnt wird? Bis in die Neuzeit glaubten die meisten Christen, dass der Autor des vierten Evangeliums der Apostel Johannes sei. Die jüngste Forschung hat diese Auffassung jedoch in Frage gestellt, und heute lehnen die meisten – aber nicht alle Wissenschaftler – diese Ansicht ab. Dieser Einführungskurs ist nicht der geeignete Ort, um in diese Debatte einzusteigen. Wir werden hier nur die Gründe für die traditionelle Auffassung vorstellen. Diejenigen, die daran interessiert sind, auch die anderen Ansichten kennenzulernen, finden unter den ‚Aufgaben’ ein Video mit weiteren Informationen.
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Um den Verfasser eines Textes zu identifizieren, untersucht man das, was als inner- bzw. außerbiblischer Beleg bezeichnet wird. Der innerbiblische Beleg bezieht sich auf die Informationen, die im Text selbst zu finden sind. Das heißt, was sagt der Verfasser über sich selbst? Aber selbst dies ist kein hinreichender Beleg für die Urheberschaft eines Textes, da der richtige Autor sich als jemand anderes ausgeben könnte. Wissenschaftler durchforsten daher den Text nach zusätzlichen Hinweisen.
Der außerbiblische Beleg bezieht sich auf Informationen, die außerhalb des Evangeliumstextes zu finden sind. Was haben zum Beispiel die Kirchenväter zu diesem Problem geschrieben? Die Belege, die wir bei ihnen finden, sprechen für den Apostel Johannes. Dies unterstützt die Hinweise, die im Evangelium selbst zu finden sind.
Wie bereits erwähnt, nennt der Autor des vierten Evangeliums nie explizit seinen Namen, obwohl er sich bei mehreren Gelegenheiten auf sich selbst bezieht. Zusätzlich zu der bereits erwähnten Stelle Joh 1, 14 finden wir ein weiteres Beispiel in Kapitel 21.
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Dies ist der Jünger, der all das bezeugt und der es aufgeschrieben hat; und wir wissen, dass sein Zeugnis wahr ist. (Joh 21, 24)
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Wenn wir uns den Kontext dieser Aussage ansehen, wird deutlich, dass der Verfasser dieses Evangeliums niemand anderes sein kann als der Jünger, den Jesus geliebt hat und der im ganzen Evangelium mehrmals genannt wird.
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Nach diesen Worten wurde Jesus im Geiste erschüttert und bezeugte: Amen, amen, ich sage euch: Einer von euch wird mich ausliefern. Die Jünger blickten sich ratlos an, weil sie nicht wussten, wen er meinte. Einer von den Jüngern lag an der Seite Jesu; es war der, den Jesus liebte. Simon Petrus nickte ihm zu, er solle fragen, von wem Jesus spreche. Da lehnte sich dieser zurück an die Brust Jesu und fragte ihn: Herr, wer ist es? Jesus antwortete: Der ist es, dem ich den Bissen Brot, den ich eintauche, geben werde. Dann tauchte er das Brot ein, nahm es und gab es Judas, dem Sohn des Simon Iskariot." (Joh 13, 21-26)
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Bei dem Kreuz Jesu standen seine Mutter und die Schwester seiner Mutter, Maria, die Frau des Klopas, und Maria von Magdala. Als Jesus die Mutter sah und bei ihr den Jünger, den er liebte, sagte er zur Mutter: Frau, siehe, dein Sohn! Dann sagte er zu dem Jünger: Siehe, deine Mutter! Und von jener Stunde an nahm sie der Jünger zu sich. (Joh 19, 25-27)
Am ersten Tag der Woche kam Maria von Magdala frühmorgens, als es noch dunkel war, zum Grab und sah, dass der Stein vom Grab weggenommen war. Da lief sie schnell zu Simon Petrus und dem anderen Jünger, den Jesus liebte, und sagte zu ihnen: Sie haben den Herrn aus dem Grab weggenommen und wir wissen nicht, wohin sie ihn gelegt haben. Da gingen Petrus und der andere Jünger hinaus und kamen zum Grab; (Joh 20, 1-3)
Er aber sagte zu ihnen: Werft das Netz auf der rechten Seite des Bootes aus und ihr werdet etwas finden. Sie warfen das Netz aus und konnten es nicht wieder einholen, so voller Fische war es. Da sagte der Jünger, den Jesus liebte, zu Petrus: Es ist der Herr! (Joh 21, 6-7)
Petrus wandte sich um und sah den Jünger folgen, den Jesus liebte und der beim Abendmahl an seiner Brust gelegen und ihm gesagt hatte: Herr, wer ist es, der dich ausliefert? Als Petrus diesen sah, sagte er zu Jesus: Herr, was wird denn mit ihm? Jesus sagte zu ihm: Wenn ich will, dass er bleibt, bis ich komme, was geht das dich an? Du folge mir nach! (Joh 21, 20-23)
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Was können wir noch aus dem Text selbst über diesen geliebten Jünger erfahren? Zum einen muss er ein Jude aus Palästina gewesen sein. Warum vermuten wir das? Der Text des Evangeliums legt nahe, dass sein Autor
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das Alte Testament kannte
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Dies sagte Jesus. Und er ging fort und verbarg sich vor ihnen. Obwohl Jesus so viele Zeichen vor ihren Augen getan hatte, glaubten sie nicht an ihn. So sollte sich das Wort erfüllen, das der Prophet Jesaja gesprochen hat: Herr, wer hat unserer Botschaft geglaubt? Und der Arm des Herrn - wem wurde seine Macht offenbar? Denn sie konnten nicht glauben, weil Jesaja an einer anderen Stelle gesagt hat: Er hat ihre Augen blind gemacht und ihr Herz hart, damit sie mit ihren Augen nicht sehen und mit ihrem Herzen nicht zur Einsicht kommen, damit sie sich nicht bekehren und ich sie nicht heile. Das sagte Jesaja, weil er Jesu Herrlichkeit gesehen hatte; über ihn nämlich hat er gesprochen. (Joh 12, 36-41)
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Denn das ist geschehen, damit sich das Schriftwort erfüllte: Man soll an ihm kein Gebein zerbrechen. Und ein anderes Schriftwort sagt: Sie werden auf den blicken, den sie durchbohrt haben. (Joh 19, 36-37)
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die Details der israelitischen Bräuche und Traditionen kannte
Um diese Zeit fand in Jerusalem das Tempelweihfest statt. Es war Winter. (Joh 10, 22; vgl. auch 2, 23; 5, 1; 6, 4; 7, 2; 13, 1)
Es standen dort sechs steinerne Wasserkrüge, wie es der Reinigungssitte der Juden entsprach; jeder fasste ungefähr hundert Liter. (Joh 2, 6)
Das Paschafest der Juden war nahe und viele zogen schon vor dem Paschafest aus dem ganzen Land nach Jerusalem hinauf, um sich zu heiligen. (Joh 11, 55)
Da wurde Jesus wiederum innerlich erregt und er ging zum Grab. Es war eine Höhle, die mit einem Stein verschlossen war. Jesus sagte: Nehmt den Stein weg! Marta, die Schwester des Verstorbenen, sagte zu ihm: Herr, er riecht aber schon, denn es ist bereits der vierte Tag... Nachdem er dies gesagt hatte, rief er mit lauter Stimme: Lazarus, komm heraus! Da kam der Verstorbene heraus; seine Füße und Hände waren mit Binden umwickelt und sein Gesicht war mit einem Schweißtuch verhüllt. Jesus sagte zu ihnen: Löst ihm die Binden und lasst ihn weggehen! (Joh 11, 38-44)
Sie nahmen den Leichnam Jesu und umwickelten ihn mit Leinenbinden, zusammen mit den wohlriechenden Salben, wie es beim jüdischen Begräbnis Sitte ist. (Joh 19, 40)
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Die Samariterin sagte zu ihm: Wie kannst du als Jude mich, eine Samariterin, um etwas zu trinken bitten? Die Juden verkehren nämlich nicht mit den Samaritern. ... Unsere Väter haben auf diesem Berg Gott angebetet; ihr aber sagt, in Jerusalem sei die Stätte, wo man anbeten muss." (Joh 4, 9.20)
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die Geografie der Gegend und die Anlage der Stadt Jerusalem kannte
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In Jerusalem gibt es beim Schaftor einen Teich, zu dem fünf Säulenhallen gehören; dieser Teich heißt auf Hebräisch Betesda. (Joh 5, 2)
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Betanien war nahe bei Jerusalem, etwa fünfzehn Stadien entfernt. (Joh 11, 18)
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Jesus ging von nun an nicht mehr öffentlich unter den Juden umher, sondern zog sich von dort in die Gegend nahe der Wüste zurück, zu einer Stadt namens Efraim. Dort blieb er mit seinen Jüngern. (Joh 11, 54)
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Nach diesen Worten ging Jesus mit seinen Jüngern hinaus, auf die andere Seite des Baches Kidron. Dort war ein Garten; in den ging er mit seinen Jüngern hinein. (Joh 18, 1)
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Auf diese Worte hin ließ Pilatus Jesus herausführen und er setzte sich auf den Richterstuhl an dem Platz, der Lithostrotos, auf Hebräisch Gabbata, heißt. (Joh 19, 13)
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Darüber hinaus legt der Text nahe, dass sein Autor ein Augenzeuge der Ereignisse gewesen sein muss, weil er viele kleine Details nennt, an die sich wahrscheinlich nur ein Zuschauer erinnert hätte.
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[Jesus] sagte zu ihnen: Kommt und seht! Da kamen sie mit und sahen, wo er wohnte, und blieben jenen Tag bei ihm; es war um die zehnte Stunde. (Joh 1, 39)
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Es standen dort sechs steinerne Wasserkrüge, wie es der Reinigungssitte der Juden entsprach; jeder fasste ungefähr hundert Liter. Jesus sagte zu den Dienern: Füllt die Krüge mit Wasser! Und sie füllten sie bis zum Rand. (Joh 2, 6-7)
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Jesus sagte: Lasst die Leute sich setzen! Es gab dort nämlich viel Gras. Da setzten sie sich; es waren etwa fünftausend Männer. (Joh 6, 10)
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Da nahm Maria ein Pfund echtes, kostbares Nardenöl, salbte Jesus die Füße und trocknete sie mit ihren Haaren. Das Haus wurde vom Duft des Öls erfüllt. (Joh 12, 3)
Er betont auch selbst, dass er ein Augenzeuge war.
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Und der es gesehen hat, hat es bezeugt und sein Zeugnis ist wahr. Und er weiß, dass er Wahres sagt, damit auch ihr glaubt. (Joh 19, 35)
Schließlich muss er zum Kreis der Zwölf gehört haben, denn der geliebte Jünger war beim Letzten Abendmahl anwesend (vgl. Joh 13, 23). Da er im ganzen Evangelium namenlos bleibt, kann er keiner der im Text genannten Jünger gewesen sein. Dazu gehören Andreas (1, 40), Petrus (13, 6), Judas Iskariot (13, 26), Thomas (14, 5), Philippus (14, 8), Judas, der Sohn von Jakobus (14, 22) und Natanaël (21, 2). Es bleiben fünf Möglichkeiten übrig: Jakobus, der Sohn des Zebedäus, Matthäus (Levi), Simon der Zelot, Jakobus, der Sohn des Alphäus, und Johannes, der Sohn des Zebedäus.
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Wir können Jakobus, den Sohn des Zebedäus, ausschließen, weil wir aus der Apostelgeschichte wissen, dass er schon früh – um 42 n. Chr. – den Märtyrertod erlitt, so dass er das Evangelium nicht hätte schreiben können. Es ist auch höchst unwahrscheinlich, dass Matthäus es geschrieben hat, da ihm ein anderes Evangelium zugeschrieben wird. Wir glauben nicht, dass es Simon der Zelot oder Jakobus, der Sohn des Alphäus, waren, weil sie eine eher untergeordnete Rolle gespielt haben. Zumindest wurden sie nie als Verfasser des Evangeliums in Betracht gezogen.
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Nachdem wir elf Apostel ausschließen können, bleibt nur noch die Möglichkeit, dass es der geliebte Jünger Johannes gewesen sein muss, der Sohn des Zebedäus.
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Wann und wo wurde das vierte Evangelium geschrieben?
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Es gibt keinen Konsens unter den Wissenschaftlern über diese Fragen, und die Argumente für oder gegen eine der Auffassungen sind zu fachspezifisch, um in einem Einführungskurs wie diesem diskutiert zu werden, so dass wir sie hier nicht im Detail vortragen werden.
Was die Datierung betrifft, so schwanken die Auffassungen zwischen den Jahren 55 und 90 n. Chr., und es ist unmöglich, eine von ihnen zu beweisen oder zu widerlegen. In Bezug auf den Herkunftsort lauten die vier häufigsten Vorschläge Alexandria, Antiochia, Palästina und Ephesus. Die traditionelle Sichtweise, die auf den Schriften der Kirchenväter basiert, verbindet die Abfassung des Evangeliums mit Ephesus. Diese Meinung wurde von modernen Exegeten in Frage gestellt, aber die Tatsache bleibt, dass kein Kirchenvater jemals einen anderen Ort als Ephesus vorgeschlagen hat.
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Die Gliederung des vierten Evangeliums
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Exegeten untersuchen den Text im Hinblick auf stilistische Merkmale wie Wiederholungen, Parallelen und Veränderungen im Ablauf der Geschichte, die auf die Struktur hinweisen, die Johannes seinem Evangelium zugrunde gelegt haben könnte. Die Grundstruktur, die die meisten Wissenschaftler annehmen, ist ganz einfach:
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Prolog (1, 1-18)
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Teil 1 – Buch der Zeichen (1, 19-12, 50)
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Teil 2 – Buch der Herrlichkeit (13, 1-20, 31)
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Epilog (21, 1-25)ā
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Dies ist auch die Struktur, der wir folgen werden, da sie für einen Einführungskurs wie diesen geeignet ist. Aber Sie sollten sich bewusst sein, dass es sich wahrscheinlich um eine sehr starke Vereinfachung handelt. Wenn man Teil 1 das ‚Buch der Zeichen’ benennt, impliziert man, dass nur dieser Teil Zeichen enthält. Das wichtigste Zeichen Jesu, seine Auferstehung, findet jedoch am Ende des ‚Buches der Herrlichkeit’ statt. Darüber hinaus stellt der Autor selbst fest:
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Noch viele andere Zeichen hat Jesus vor den Augen seiner Jünger getan, die in diesem Buch nicht aufgeschrieben sind. Diese aber sind aufgeschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben Leben habt in seinem Namen. (Joh 20, 30-31)
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Dies scheint zu implizieren, dass er das ganze Evangelium als ein Buch von Zeichen betrachtete, über die er schrieb, damit wir an Jesus glauben.
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Merkmale des vierten Evangeliums
Der Bibelwissenschaftler, P. Raymond Brown, identifizierte mehrere literarische Merkmale des Evangeliums. Deshalb sollten sie beim Lesen desselben, Folgendes im Hinterkopf behalten:
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„#1 – MISSVERSTÄNDNIS. Jesus verwendet häufig eine bildliche Sprache oder Metaphern, wenn er von sich spricht oder wenn er seine Botschaft übermittelt. In einem sich anschließenden Dialog missversteht der Fragesteller das Bild oder die Metapher [zum Beispiel Nikodemus und die Samariterin] und geht in seinem Verständnis nur von der wörtlichen Bedeutung aus. Dies ermöglicht es Jesus, seine Gedanken ausführlicher zu erklären und dadurch seine Lehre zu entfalten ...
#2 – IRONIE. Die Gegner Jesu werden dazu gebracht, Aussagen über ihn zu machen, die abfällig, sarkastisch, von Unglauben geprägt oder zumindest unzutreffend in dem von ihnen beabsichtigten Sinn sind. Ironischerweise sind diese Aussagen jedoch oft wahr oder tiefgründiger als sie selbst erkennen. [Zum Beispiel, Nikodemus, der Jesus einen Lehrer nennt, der von Gott kommt in Joh 3, 2, und die Samariterin, die Jesus größer nennt als Jakob in Joh 4, 12].
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#3 – ZWEIFACHE BEDEUTUNG: a) Häufig findet sich ein Spiel mit verschiedenen Bedeutungen eines bestimmten Wortes, das Jesus verwendet, Bedeutungen, die entweder auf dem Hebräischen oder Griechischen basieren. [Zum Beispiel ‚wiedergeboren‘ vs. ‚von oben geboren‘ in Joh 3, 3; ‚Geist‘ gegen ‚Wind‘ in Joh 3, 8; ‚natürliches Wasser‘ vs ‚übernatürliches lebendiges Wasser‘ in Joh 4, 10] ...
„b) Im vierten Evangelium will der Verfasser den Leser häufig dazu bringen, in derselben Erzählung oder in derselben Metapher mehrere Bedeutungsebenen zu entdecken. Das ist verständlich, wenn wir uns die Umstände vor Augen halten, unter denen das Evangelium verfasst wurde: (1) Es gibt die Bedeutung, die sich aus dem historischen Kontext im Leben Jesu ergibt. Die Zuhörer, die Jesus lauschten und seine Handlungen miterlebten, verstanden sein Handeln notwendigerweise vor ihrem eigenen religiösen Hintergrund und der Art ihres Denkens. Wir können dies den historischen Gehalt der Bibelstellen nennen. Doch es gibt eine tiefere Bedeutung der Worte und Taten Jesu, die von der gläubigen christlichen Gemeinde verstanden wurde. Die Botschaft Jesu wurde in der frühen Kirche gepredigt und gelehrt, sie wurde in der Liturgie gebetet, so dass sich alle ihre Implikationen allmählich entfalten konnten; und die späteren Christen konnten viel mehr von dem verstehen, was Jesus gemeint hatte, als diejenigen, die ihn zum ersten Mal in Galiläa und Jerusalem gehört hatten. (2) Jesus kommt aus einer anderen Welt – von oben; und doch spricht er die Sprache dieser Welt – von unten. Unweigerlich missverstehen diejenigen, die ihm begegnen, deren Erfahrungen auf der unteren Ebene liegen, seine Bedeutung von oben, wenn er von Wasser, Brot, Fleisch usw. spricht. Während die Leser herausgefordert sind, eine tiefere Bedeutung zu erkennen, werden sie auch von dem Fremden, der von oben kommt, verwirrt und so zum Glauben eingeladen.
#4 INKLUSION. Johannes erwähnt oft ein Detail (oder macht eine Anspielung) am Ende eines Abschnitts, das mit einem ähnlichen Detail am Anfang dieses Abschnitts korrespondiert. Dies ist eine Möglichkeit, verschiedene Passagen zusammenzustellen, indem der Anfang und das Ende miteinander verbunden werden.
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#5 – REALISIERTE ESCHATOLOGIE. Die Synoptiker verorten solche Dinge wie das Gericht, die Wiederkunft Jesu, das Werden zu Kindern Gottes am Ende der Zeiten (Mt 25, 31; Lk 6, 35; 20, 35-36). Johannes betont, ohne diese Wahrheit zu verleugnen, dass diese Realität bereits begonnen hat; seine Eschatologie (Lehre von den letzten Dingen) ist zum Teil bereits Wirklichkeit geworden (vgl. Joh 3,18; 5, 24-25; 12, 31-33).
#6 – DIALOG WIRD ZUM MONOLOG. Jesus kann ein Gespräch mit einer bestimmten Person oder einer bestimmten Zuhörerschaft beginnen; doch während er weiterspricht, treten die Zuhörer für ihn in den Hintergrund, und am Ende scheinen seine Worte den Charakter eines Diskurses über universelle Wahrheiten angenommen zu haben. Ein Teil dieser Wirkung kann auf die redaktionelle Zusammenstellung mehrerer Reden zurückzuführen sein. Die Absicht liegt jedoch darin, die Worte Jesu von den Einschränkungen der jeweiligen Umstände zu befreien und ihnen eine ewige und universelle Gültigkeit zu verleihen (vgl. 3, 16; 10, 1-18; vgl. 14-17).“
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(Raymond Brown, The Gospel and Epistles of John, The Liturgical Press, 1988, S. 17-19)
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Vergleich des vierten Evangeliums mit den synoptischen Evangelien
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Selbst wer die vier Evangelien nur oberflächlich liest, wird schnell feststellen, dass das Johannes-Evangelium ganz anders ist als die anderen drei. Aufgrund der vielen Ähnlichkeiten zwischen den Evangelien von Matthäus, Markus und Lukas erweckt es den Anschein, als hätten ihre Autoren die gleiche Vorlage gehabt. Jesus beginnt seine Predigertätigkeit in Galiläa, indem er an öffentlichen Orten lehrt und Menschen auf wunderbare Weise heilt. Er wird von den einfachen Menschen gerühmt, aber von den Behörden abgelehnt. Schließlich fragt Jesus seine Apostel, für wen sie ihn halten, und Petrus antwortet, dass er der Messias sei. Diese Aussage bildet einen Wendepunkt, und Jesus macht sich auf den Weg nach Jerusalem. Unterwegs teilt er seinen Aposteln mit, dass er verraten, getötet und dann auferstehen werde. Aber sie verstehen ihn nicht und haben Angst.
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Als Jesus Jerusalem erreicht, reitet er auf einem Esel in die Stadt, wobei die Menge ihn als König proklamiert, der im Namen des Herrn gekommen sei. Das ruft natürlich die Behörden auf den Plan. Die Reinigung des Tempels und die Kontroversen, die daraufhin erfolgen, machen die Dinge nur noch schlimmer und führen dazu, dass die Behörden ihn ablehnen und schließlich kreuzigen. Am dritten Tag ersteht Jesus von den Toten.
Die Unterschiede zwischen diesen drei Evangelien sind auf die unterschiedlichen Stile und Interessen ihrer jeweiligen Verfasser zurückzuführen, aber im Allgemeinen erzählen sie die gleiche Geschichte. Tatsächlich sind sie sich so ähnlich, dass wir die Ereignisse, die sie erzählen, in drei parallelen Spalten anordnen können. Dies ist der Ursprung des Begriffs ‚Synoptische Evangelien‘. Das Wort ‚Synoptikum‘ bedeutet ‚zusammen sehen’ (syn-optic).
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Wir können das Johannes-Evangelium jedoch nicht in eine entsprechende vierte Spalte einordnen. Natürlich gibt es auch viele Gemeinsamkeiten, denn alle vier Evangelien erzählen die Geschichte Jesu Christi. Manche Exegeten glauben, dass Johannes Kenntnis von den Schriften der Synoptiker hatte und sie vielleicht sogar benutzte, aber dass er sein Evangelium trotzdem auf andere Quellen stützte.
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Während Jesus gemäß den Synoptikern von Galiläa nach Jerusalem aufbricht, sehen wir Jesus im vierten Evangelium zwischen den beiden Orten hin- und herziehen. Zum Beispiel begegnen wir ihm zum ersten Mal in Bethanien, auf der anderen Seite des Jordans, wo Johannes taufte. Nachdem er seine ersten Schüler getroffen hat, wandert er nach Galiläa. Nach der Hochzeit zu Kana in Kapitel 2 kehrt Jesus nach Judäa zurück und geht nach Jerusalem, um das Passahfest zu feiern. Dort trifft er auf Nikodemus (Kapitel 3). Aber in Kapitel 4 reist er zurück nach Galiläa über Samaria, wo er die Samariterin trifft. Dann, zu Beginn von Kapitel 5, kehrt er nach Jerusalem zurück, um ein weiteres Fest zu feiern. Dies alles deutet darauf hin, dass Johannes einer anderen Vorlage folgte.
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Aufgaben
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Schauen Sie sich das Video an Which John Wrote The Gospel Of John?!
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Lesen Sie Felix Just, S.J., Contrasts Between John and the Synoptics und W. Hall Harris III, Commentary on the Gospel of John, “2. Major Differences Between John and the Synoptic Gospels” und/oder schauen Sie sich The Rosamund Project, Why John's Gospel Is So Different an!
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Welche Hinweise im Evangeliums legen nahe, dass der Apostel Johannes der Autor des vierten Evangeliums ist?
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